Hinweise auf bisher nicht besprochene Kriminalromane von Autoren, die im Blog bereits aufgeführt sind. Die Texte habe ich in leicht angepasster Form in die Autorenporträts eingefügt.

Thomas H. Cook: ‚Evidence of Blood‘ – ‚Blutspuren‘, 1991

Der Roman spielt in der fiktiven Kleinstadt Sequoyah, Georgia, wo am 2. Juli 1954 ein sechzehnjähriges Mädchen verschwand und nie mehr auftauchte – sein blutiges Kleid wurde im Wald gefunden. Ein Bauarbeiter gestand den Mord und wurde hingerichtet. 37 Jahre später erleidet der langjährige frühere Sheriff Ray Tindall, der zuletzt für den Bezirkstaatsanwalt tätig war, einen plötzlichen Herztod, worauf sein engster Freund Jack Kinley – ein angesehener Autor von True Crime Büchern -, der hier seine Kindheit verbracht hatte, aus New York zur Beerdigung anreist. Als er erfährt, dass Ray sich in den letzten Wochen seines Lebens intensiv mit dem letztlich ungeklärt gebliebenen Mordfall auseinandergesetzt hat, beginnt er selbst zu recherchieren. Dabei stützt er sich auf Berichte von Zeitzeugen, die Protokolle der Gerichtsverhandlung – und seine überragenden intellektuellen Fähigkeiten. Aus zahlreichen Mosaiksteinchen ergibt sich schliesslich das scheussliche Bild eines Ortes, der durch düstere Familiengeheimnisse und Ränkespiele alter Seilschaften in den Abgrund gerissen wurde. ‚Blutspuren‘ ist eine faszinierende Mischung aus „Police Procederal“ (wenn auch ohne Polizeipräsenz), Justizthriller und psychologischer Studie, getragen von meisterhaft gestalteten Figuren – und einem Protagonisten, dessen Leben auf den Kopf gestellt wird.

Zum Porträt: Cook, Thomas H.

Jérôme Leroy: ‚Les derniers jours des fauves‘ – ‚Die letzten Tage der Raubtiere‘, 2022

Frankreich, „ein reiches, von armen Menschen bevölkertes Land“, steckt eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie in einer tiefen Krise. Harter Lockdown, Impfpflicht, Dürreperioden im Wechsel mit Überschwemmungen, Demonstrationen und Krawallen haben die Republik destabilisiert, die Demokratie ist gefährdet. Nathalie Séchard, 58-jährige Präsidentin der sozialliberalen und europafreundlichen, Macrons Regierung nachgezeichneten Partei „Nouvelle Société“, wurde vor knapp vier Jahren, im Mai 2017, zum Staatsoberhaupt gekürt. Das Kabinett der glücklich mit dem 26 Jahre jüngeren Lyriker Jason Perros verheirateten Politikerin ist heterogen, das Spektrum reicht vom reaktionären Innenminister Patrick Beauséant zum grünen Umweltminister Guillome Manerville. In einem Jahr stehen Neuwahlen an, zu denen Séchard nicht mehr antreten mag. Der rechtsextreme „Bloc Patriotique“ unter Agnès Dorgelles drängt an die Macht, die Intrigen sind bereits in vollem Gang. Das gefährlichste „Raubtier“ ist aber der ausgezeichnet mit Militär, Polizei und Geheimdienst vernetzte siebzigjährige Innenminister Beauséant, der buchstäblich über Leichen geht, um endlich die Spitze der Grande Nation zu erklimmen. Als drittes Schwergewicht hat sich der „realistische Idealist“ Mannerville etabliert, dessen linksaktivistische zwanzigjährige Tochter Clio mit Beauséants Ghostwriter Lucien liiert ist. Morde, Terroranschläge und COVID-19 prägen den irrwitzigen Machtkampf, den Jérôme Leroy mit bösem Blick, in schnellen Szenenwechseln und Rückblenden dokumentiert. ‚Die Tage der Raubtiere‘: ein unwiderstehlicher, beängstigend realistischer Politthriller mit unvergesslichen Figuren.

Zum Porträt: Leroy, Jérôme

Chris Offutt: ‚Shifty’s Boys‘ – ‚Schmutzige Geschäfte‘, 2022

Dies ist der zweite Auftritt der Geschwister Mick und Linda Hardin nach dem ein Jahr zuvor erschienenen Roman ‚Unbarmherziges Land‘. Während der inzwischen von seiner Frau getrennte CID-Ermittler Mick sich in seiner Heimat, den Kentucky Hills, von bei einem Attentat erlittenen Verletzungen erholt, steht Linda hier kurz vor Ende des Wahlkampfs für die zweite Amtszeit als Sheriff. Als der Drogendealer „Fuckin“ Barney“ ermordet wird und kurz danach sein Bruder Mason dasselbe Schicksal erleidet, bittet ihre rabiate Mutter, Shifty Kissick – siehatte vor vielen Jahren mit dem Vater der Hardin-Geschwister eine Affäre -, Mick um Hilfe. Die Spur führt zu einer Organisation, die in der abgeschiedenen, urwüchsigen Region mit der illegalen Entsorgung von Giftmüll einen Reibach macht – und über Leichen geht. Zusammen mit Shiftys angereistem ältesten Sohn Raymond, einem hartgesottenen Marine, begibt sich der im Grunde sanftmütige und empathische Kämpfer auf einen mörderischen Feldzug gegen das Böse – „Die Schönheit der Natur verhüllte die ihr innewohnende Brutalität, aber bei den Menschen lag sie nackt zutage.“ Nach erledigter Arbeit geht ihm durch den Kopf: „Vorsichtig zu sein hiess, wie ein Krimineller zu denken, etwas das er ausgezeichnet konnte. Es hatte seine Laufbahn befördert, aber manchmal frage er sich doch, ob er nicht zu sehr in diese Richtung abdriftete.“ ‚Schmutzige Geschäfte‘ ist ein meisterhaft gestalteter Noir, in dem sich wunderbare Naturbeobachtungen, erstklassige Dialoge, Thrillerelemente und eingestreute Kürzestgeschichten perfekt ergänzen. Der dritte Band der Hardin-Reihe, ‚Code of the Hills‘, ist in den USA im Juni 2023 herausgekommen.

Zum Porträt: Offutt, Chris

Jochen Rausch: ‚Im toten Winkel‘, 2023

‚Im toten Winkel‘ dreht sich um Marta Milutinovic, eine Münchner Kommissarin mit slowenischen Wurzeln, deren Leben nach der Ermordung ihrer siebzehnjährigen Tochter Charlotte vor vier Jahren, dem Scheitern ihrer Ehe und einem verhängnisvollen Polizeieinsatz in Trümmern liegt. Immer noch erfüllt von tiefer Trauer, versucht sie jetzt einen Neuanfang als Leiterin der Polizeireviers in dem fiktiven Städtchen Schwarzbach unweit der deutsch-tschechischen Grenze. Hier stösst sie auf ein bunt zusammengewürfeltes kleines Team. Und auf einen ungelösten, über zwanzig Jahre zurückliegenden Todesfall (höchst wahrscheinlich war es Mord) mit dem neunzehnjährigen Abiturienten Jens als Opfer. Bei ihre Bestreben, den Cold Case noch einmal aufzurollen, stösst sie bei der Mehrheit der einheimischen „jeder kennt jeden“-Bevölkerung auf Ablehnung, doch Mara lässt sich nicht beirren – und entwirrt ein Geflecht aus Geldgier, sexueller Gewalt, Erpressung, und Mord. Die finale Abrechnung hat es in sich.

Zum Porträt: Rausch, Jochen

Cosby, S.A.: ‚My Darkest Prayer‘ – ‚My Darkest Prayer‘, 2019

Nathan „Nate“ Waymaker, Ende dreissig, Ex-Marine und Ex-Cop, ein warmherziger, loyaler Mensch mit kurzer Zündschnur, kümmert sich um Leichen: Er arbeitet im Betrieb seines Cousins, dem ‚Walter Blackmon Funeral Home‘, in Queen County, Virginia. „Um in der Bestatterbranche wirklich gut zu sein, muss man zu gleichen Teilen Wissenschaftler, Künstler und Geschäftsmann sein“. All dies ist er. Und findet trotzdem noch ausreichend Zeit, um den Mord an Reverend Esau Watkins zu untersuchen, während die Polizei den Fall als Suizid abhakt – die Polizei, die bereits bei der Ermittlung des gewaltsamen Todes von Nates Eltern völlig versagt hat. Rev. Watkins war ein Mann mit erheblicher krimineller Energie, bis er zu Gott fand, doch seit einiger Zeit ist er offenbar erneut in schmutzige Geschäfte verwickelt. Dies ist die Ausganglage der nachtschwarzen Geschichte um kriminelle Gottesmänner, mächtige Gangster, korrupte Cops, durchtriebene Frauen – und einen Killer namens Skunk, der zusammen mit Nate das grosse Reinemachen besorgt. Nichts für schwache Nerven. Aber verdammt gut.

Zum Porträt: Cosby, S.A.