(*1964)

Jérôme Leroy, geboren in Rouen, ist seit den 80er-Jahren undogmatisches Mitglied der kommunistischen Partei. Er unterrichtete zwanzig Jahre Französisch an einer Zone d’éducation priorité in der nordfranzösischen Stadt Roubaix, bis er zu schreiben begann. In seinem Werk finden sich Kurzgeschichten, Novellen, Romane (hauptsächlich romans noirs, drei von ihnen wurden in ausgezeichneten deutschen Übersetzungen in der Edition Nautilus herausgegeben), Gedichte, Essays und Jugendbücher (unter ihnen ‚Norlande‘ über Anders Breiwiks Massaker in Oslo und auf der norwegischen insel Utoya im Juli 2011) sowie Artikel für die Magazine ‚Magacine‘, ‚Causeur‘ und ‚Liberté Hebdo‘. Der mit dem Néopolar-Autor Frédéric H. Fajardie befreundete Autor lebt in Lille, nahe der belgischen Grenze, und führt seit August 2014 das lesenswerte Blog ‚feusurlequartiergeneral.blogspot.co („Feu sur le quartier“).

‚Der Block‘ spielt in der nahen Zukunft. Seit Monaten brodelt es in den Banlieues, Gewaltakte sind an der Tagesordnung und haben bereits über 750 Todesopfer gefordert, als in einer geheimen nächtlichen Sitzung die Einbindung der rechtsextremen Partei „Bloc Patriotique“ in die konservative Regierung verhandelt wird. Die Parteivorsitzende Agnès Dorgelles, Tochter des Gründers des Blocks, vertritt die Nationalisten, während ihr Mann Antoine Maynard, ein faschistisch-nihilistischer Feingeist, Literat und Cinéast, und sein engster Freund Stéphane „Stanko“ Stankowiak, ein schwuler polnisch-stämmiger Arbeitersohn, der die Schlägertruppe der Partei anführt, auf das Ende der Sitzung warten und in endlosen inneren Monologen abwechslungsweise die letzten dreissig Jahre Revue passieren lassen. Dabei ist beiden Männern bewusst, dass Stanko den kommenden Morgen nicht erleben wird – zu viel Blut klebt an seinen Fingern, um für eine Koalition tragbar zu sein. Leroy ergänzt seinen komplexen Roman mit einem klugen Nachwort über den Aufstieg der extremen Rechten in Frankreich, über den Untergang der Demokratie, und mit einem Glossar, in dem bedeutende Namen und Organisationen aufgeführt sind. ‚Der Block‘ wurde von dem belgischen Regisseur Lucas Belvaux verfilmt und kam 2017 unter dem Titel ‚Chez nous‘ in die Kinos.

‚Der Schutzengel‘, zeitlich vor ‚Der Block‘ angesiedelt, erzählt die Geschichte der 60-jährigen (vornamenlosen) Tötungsmaschine Berthet, ein Meister der „Chamäleontechnik“ mit zahlreichen Decknamen und Schlupflöchern in mehreren Städten. Seit den 80ern führt er ein „Geisterleben“ als Auftragskiller der „Unité“, einer geheimen, von Leroy als „Tiefer Staat“ bezeichneten Staatspolizei, deren mörderisches Treiben ursprünglich der Sicherung der Demokratie dienen sollte. Berthet ist aber auch der Schutzengel der aufstrebenden schwarzen Sozialistin Kardiatou Diop, die nicht von seiner Existenz weiss, und ein nostalgischer Mann mit einer Leidenschaft für Sex und Poesie. Und jetzt muss Berthet durch seine Auftraggeber aus dem Weg geräumt werden, damit Kardiatou Diop – sie ist bei den bevorstehenden Wahlen die aussichtsreichste Konkurrentin der (aus ‚Der Block‘ hinlänglich bekannten) Rechtspopulistin Agnès Dorgelles – ohne Federlesens eliminiert werden kann. Berthet aber hat noch einen letzten Pfeil im Köcher, mit dem niemand gerechnet hat: Die Veröffentlichung seiner durch den abgehalfterten linken Autor und ehemaligen Lehrer Martin Joubert verfassten, als Autobiografie getarnten und durch einen Haufen Beweismaterial untermauerten Abrechnung mit der „Unité“ könnte den Führern dieser unseligen Organisation das Genick brechen.

‚Die Verdunkelten‘ ist ein Roman auf zwei Zeitebenen, der Gegenwart des Jahres 2015 und der Zukunft der frühen 2030er-Jahre, und ein Roman mit zwei sich abwechselnden Erzählern, der jungen Pariser Geheimagentin Agnès Delvaux und dem melancholischen, einst einflussreichen altlinken Lehrer, Journalisten und Autor Guillaume Timbert. Die Erzählung nimmt Bezug auf die Massaker von ‚Bataclan‘ und ‚Charlie Hebdo‘ – Frankreich befindet sich danach in einem chaotischen, gesetzlosen Zustand, terroristische Anschläge prägen den Alltag, die Sicherheitskräfte der Polizei und der Armee haben die Macht übernommen, und die Menschen sind zutiefst frustriert vom Spätkapitalismus, dem Überwachungsstaat, der Allgegenwart der sozialen Medien. Immer mehr von ihnen, die „Verdunkelten“, verlassen ohne Spuren zu hinterlassen die Städte und ihre Nächsten, um ein neues, archaisches Leben am Rande zu führen. Dies ist die Ausganglage, als Agnès Delvaux auf Timbert angesetzt wird, eine Aufgabe, die sie mit erstaunlicher Besessenheit in Angriff nimmt – sie dringt in seine Wohnug ein, liest Notizbücher und Dateien, hört Schallplatten, schnüffelt an seiner Wäsche und übernachtet in seinem Bett – Delvaux schlüpft in Timberts Haut. Siebzehn Jahre später blickt sie zurück auf diese bleierne Zeit, legt ihrer siebzehnjährigen Tochter Ada Zeugnis ab von ihrem blutigen Job und ihrer merkwürdigen Beziehung zu Timbert, den sie in all diesen Jahren kaum je leibhaftig getroffen hat. Die Lösung eröffnet sich erst auf den letzten Seiten der Geschichte und verbreitet einen Hauch von Optimismus.

‚Die letzten Tage der Raubtierte‘: Frankreich, „ein reiches, von armen Menschen bevölkertes Land“, steckt eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie in einer tiefen Krise. Harter Lockdown, Impfpflicht, Dürreperioden im Wechsel mit Überschwemmungen, Demonstrationen und Krawalle haben die Republik destabilisiert, die Demokratie ist gefährdet. Nathalie Séchard, 58-jährige Präsidentin der sozialliberalen und europafreundlichen, Macrons Regierung nachgezeichneten Partei „Nouvelle Société“, wurde vor knapp vier Jahren, im Mai 2017, zum Staatsoberhaupt gekürt. Das Kabinett der glücklich mit dem 26 Jahre jüngeren Lyriker Jason Perros verheirateten Politikerin ist heterogen, das Spektrum reicht vom reaktionären Innenminister Patrick Beauséant zum grünen Umweltminister Guillome Manerville. In einem Jahr stehen Neuwahlen an, zu denen Séchard nicht mehr antreten mag. Der rechtsextreme „Bloc Patriotique“ unter Agnès Dorgelles drängt an die Macht, die Intrigen sind bereits in vollem Gang. Das gefährlichste „Raubtier“ ist aber der ausgezeichnet mit Militär. Polizei und Geheimdienst vernetzte siebzigjährige Innenminister Beauséant, der buchstäblich über Leichen geht, um endlich die Spitze der Grande Nation zu erklimmen. Als drittes Schwergewicht hat sich der „realistische Idealist“ Mannerville etabliert, dessen linksaktivistische zwanzigjährige Tochter Clio mit Beauséants Ghostwriter Lucien liiert ist. Morde, Terroranschläge und COVID-19 prägen den irrwitzigen Machtkampf, den Jérôme Leroy mit bösem Blick, in schnellen Szenenwechseln und Rückblenden dokumentiert. ‚Die letzten Tage der Raubtiere‘: ein unwiderstehlicher, beängstigend realistischer Politthriller mit unvergesslichen Figuren.

‚L’Orange de Malte‘ (1990), ‚Le Cimetière des plaisirs‘ (1994), ‚Monnaie bleue‘ (1997), ‚Big Sister‘ (2000), ‚Bref rapport sur une très fugitive beauté‘ (2002), ‚Le Cadavre du jeune homme dans les freurs rouges‘ /2004), ‚La Minute prscrite por l’assaut‘ (2008), ‚En harmonie‘ (2009), ‚A vos Marx, prêts, partez!‘ (aus der Reihe ‚Le Poulpe‘, 2009), ‚Le Bloc‘ – ‚Der Block‘ (2011), ‚L’Ange gardien‘ – ‚Der Schutzengel‘ (2014), ‚Jugan‘ (2017), ‚Un peu tard pour la saison‘ – ‚Die Verdunkelten‘ (2017). ‚Terminus Nord, une nouvelle aventure de Nestor Burma‘ (2018), ‚La Petite Gauloise‘ (2018), ‚Vivonne‘ (2021), ‚Les derniers jours des fauves‘ – ‚Die letzten Tage der Raubtiere‘ (2022).

Gemeinsam mit Max Annas: ‚Terminus Leipzig‘ (2022).