(*1953)
Yves Ravey kam als Sohn eines französischen Arbeiters und einer Österreicherin im Doubs-Städtchen Besancon, im Nordosten Frankreichs, zur Welt, wo er auch heute lebt und neben seiner Schriftstellerei bildende Kunst am Collège Stendhal unterrichtet. Sein Werk enthält Essays und Texte über Kunst sowie Theaterstücke und bisher siebzehn schlanke Noir-Romane, von denen drei in gelungenen deutschen Übersetzungen vorliegen. Minimalistischer Stil und unerwartete Wendungen sind die Markenzeichen des preisgekrönten Autors, dessen Werke an Georges Simenons “Romans durs” erinnern.
‘Bruderliebe’ handelt von zwei Brüdern, die sich vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen haben und sich nie viel zu sagen hatten: Ich-Erzähler Max, seit langer Zeit Prokurist des französischen Industriellen Salomon Pourcelot, und Jerry, furchtloser Kämpfer für eine Terrorzelle in Afghanistan. Jetzt schmuggelt Max seinen älteren Bruder über verschneite Berge von der Schweiz nach Frankreich, in das savoyische Städtchen, in dem sie aufgewachsen sind, damit er ihm hilft, für ein Lösegeld von einer halben Million Euro die Tochter seines Chefs zu entführen, Samantha, die Max mehrmals abgewiesen hat. Der Plan geht zunächst auf, doch bald ziehen schwarze Wolken auf – eine teuflische Gestalt treibt ihre Spielchen.
Zu Beginn des gerade mal neunzig Seiten umfassenden Romans ‘Ein Freund des Hauses’ steht ein Mann mit einem zugelaufenen Hund vor der Tür seiner Cousine Marthe Rebernak: Er heisst Freddy und ist nicht das hellste Licht in der Kirche. Bis vor einigen Tagen sass er fünfzehn Jahre im Gefängnis, weil er sich an einem kleinen Mädchen vergangen hatte, und Marthe, vewitwete Mutter zweier halbwüchsiger Kinder – Clémence und der namenlose Ich-Erzähler – weigert sich standhaft, ihn bei sich aufzunehmen, auch wenn der Bewährungshelfer und die Polizei beteuern, von Freddy gehe keinerlei Gefahr mehr aus. Der Obermacker des Provinzstädtchens ist Notar Montussaint, betuchter Angehöriger einer Jagdgesellschaft, der es gut kann mit der Jugend des Orts, sich mit Clémence anfreundet und sie in seinem roten Sportcoupé abends nach hause bringt. Und dann, unmittelbar vor Ende der raffinierten, von einer bedrohlichen Stimmung durchdrungenen Geschichte, fällt ein tödlicher Schuss.
Schauplatz: eine gottverlassene Tankstelle in der nordostfranzösischen Provinz. Ihr Besitzer Jean Segers, Ich-Erzähler Mitte vierzig, kinderlos verheiratet mit der attraktiven Remedios, steht am Abgrund: Über den Betrieb wurde eben erst ein Insolvenzverfahren eröffnet, sein Schulfreund Walden, mit dem Remedios womöglich ein Verhältnis hat, ist Präsident des zuständigen Handelgerichts, und seinem einzigen Angestellten, dem jungen Familienvater Usman, schuldet er eine Abfindung von drei Monatslöhnen. Zudem geht ihm seine begüterte Mutter mit ihrem neuen Lover auf den Geist. Scheinbar teilnahmslos schaut Seghers zu, wie seine ganze Existenz rasant den Bach runtergeht – bis er Remedios bei einem Seitensprung mit Usman beobachtet und sich gezwungen sieht, seine Probleme mit einer Gewalttat auf einen Schlag zu beseitigen. ‘Die Abfindung’ (im Original treffender ‘Adultère’, also Ehebruch) ist ein düsteres, minimalistisches, auf jegliches Psychologisieren verzichtendes Kammerspiel mit einem Ende, das den Leser aus der Bahn wirft.
Bibliografie:
‘La tables des singes’ (1989), ‘Bureau des illetrös’ (1992), ‘Le cours classique’ (1995), ‘Alerte’ (1996), ‘Moteur’ (1997), ‘Le drap’ (2002), ‘Pudeur de la lecture carré blanc’ (2003), ‘Pris au piège’ (2005), ‘L’Epave’ (2006), ‘Bambi Bar’ (2008), Dieu est un steward de bonne composition (2008), ‘Cutter’ (2009), Enlèvement avec rancon’ – ‘Bruderliebe’ (2010), ‘Un notaire peu ordinaire’ – ‘Ein Freund des Hauses’ (2013). ‘La fille de mon meilleur ami’ (2014), ‘Sans Etat d’âme’ (2015), ‘Trois jours chez ma tante’ (2017), ‘Pas dupe‘ (1919), ‘Adultère’ – ‘Die Abfindung (2021).
Zu “Bruderliebe” hatte ich ja einst auch meinen Senf abgegeben. Hat mir auch – trotz der Kürze – gefallen und mich äußerst stimmungsvoll abgeholt.