Hinweise auf bisher nicht besprochene Kriminalromane von Autoren, die im Blog bereits aufgeführt sind. Die Texte habe ich in leicht angepasster Form in die Autorenporträts eingefügt.
Yves Ravey: ‘Adultère’ – ‘Die Abfindung’, 2021
Schauplatz ist eine gottverlassene Tankstelle in der nordostfranzösischen Provinz. Ihr Besitzer Jean Segers, Ich-Erzähler Mitte vierzig, kinderlos verheiratet mit der attraktiven Remedios, steht am Abgrund: Über den Betrieb wurde eben erst ein Insolvenzverfahren eröffnet, sein Schulfreund Walden, mit dem Remedios womöglich ein Verhältnis hat, ist Präsident des zuständigen Handelgerichts, und seinem einzigen Angestellten, dem jungen Familienvater Usman, schuldet er eine Abfindung von drei Monatslöhnen. Zudem geht ihm seine begüterte Mutter mit ihrem neuen Lover auf den Geist. Scheinbar teilnahmslos schaut Seghers zu, wie seine ganze Existenz rasant den Bach runtergeht – bis er Remedios bei einem Seitensprung mit Usman beobachtet und sich gezwungen sieht, seine Probleme mit einer Gewalttat auf einen Schlag zu beseitigen. ‘Die Abfindung’ (im Original treffender ‘Adultère’, also Ehebruch) ist ein düsteres, minimalistisches, auf jegliches Psychologisieren verzichtendes Kammerspiel mit einem Ende, das den Leser aus der Bahn wirft.
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James Sallis: ‘The Killer Is Dying’ – ‘Der Killer stirbt’, 2011
Vier verlorene Seelen bilden den Kern von Sallis’ düsterem, halluzinatorischem Roman ‘Der Killer stirbt’: Der todkranke Auftragskiller Christian, der diesen Beruf seit vierzig Jahren ausübt und noch einen letzten Hit zu leisten hat; der ausgebrannte Cop Sayles, dessen Frau ihre letzten Stunden in einem Sterbehospiz verbringt; Jimmie, ein zwölfjähriger Junge, der sich, verlassen von seinen Eltern, mit Ebay-Geschäften über Wasser erhält und von eigenartigen Träumen heimgesucht wird – Träume aus Christians Leben; der kleine Buchhalter Rankin, der aus dem Weg geräumt werden soll:
Christian hat sich mit seinem baldigen Tod längst abgefunden, blickt in kurzen Einschüben auf sein Leben zurück und bündelt nun ein letztes Mal seine Kräfte, doch ein Unbekannter kommt ihm zuvor, feuert mehrere Schüsse auf Rankin ab – die Arbeit eines Profis, daran gibt’s keine Zweifel. Warum aber hat Rankin dann den Anschlag überlebt? Und warum überhaupt ist dieser unscheinbare, ältere Herr auf einmal Zielscheibe von Berufskillern? Christian beabsichtigt zunächst, der Sache auf den Grund zu gehen – doch dann rückt Sallis den Kriminalfall ganz in den Hintergrund, um den Schwerpunkt der Geschichte auf die Themen Einsamkeit, Vergänglichkeit, Zerfall und Sterben zu verlagern.
Zum Porträt: Sallis, James
Leo Perutz: ‘Wohin rollst du, Äpfelchen…’, 1928
‘Wohin rollst du, Äpfelchen…’ (der Titel bezieht sich auf ein russisches Volkslied, das die Ungewissheit der Zeit zum Ausdruck bringt) ist zunächst häppchenweise in der ‘Berliner Illustrirten Zeitung’ erschienen, Millionen von Lesern verfolgten den Erstdruck der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg spielenden Geschichte, in der sich der rastlose ehemalige k.u.k. Offizier Georg Vittorin, eben erst der sibierischen Gefangenschaft entronnen, auf eine wahnwitzige Jagd in das vom Bürgerkrieg zerrissene Russland begibt, um Rache zu nehmen an seinem Erzfeind Stabskapitän Seljukow, dem Straflager-Kommandanten, von dem er gequält und gedemütigt worden war. Doch Vittorin verfolgt eine falsche Spur, wird (auf der Seite der Rotarmisten) in den Krieg verwickelt, erkrankt an Flecktyphus – und verliert langsam den Verstand. Nach zwei Jahren Irrfahrt kreuz und quer durch Europa, bei der er über Leichen geht, findet das herbeigesehnte “Duell ohne Zeugen” in seiner Heimatstadt Wien statt, allerdings ganz anders, als er sich dies vorgestellt hat.
Zum Porträt: Perutz, Leo
Ross Thomas: ‘The Procane Chronicle’ – ‘Das Procane-Projekt’, 1971
Philip St. Ives, abgezockter, wortgewandter, sich nicht allzu ernst nehmender Ich-Erzähler einer fünfteiligen Reihe, die Thomas ursprünglich mit dem Pseudonym Oliver Bleek gezeichnet hat, war Journalist, bis er das “Vermitteln” als seine wahre Berufung entdeckte – er überbringt Lösegelder, transferiert gestohlene Ware und profitiert dabei von seinen ausgezeichneten Kontakten zur New Yorker Unterwelt. “Ich habe meine eigene Moral, doch die ist nicht besonders streng, sonst wäre ich nicht in diesem Geschäft.” Sein wichtigster Auftraggeber ist der Anwalt Myron Greene.
Dieses Mal soll St. Ives dem Meisterdieb Abner Procane – der stiehlt nie etwas anderes als Bargeld, und nie von jemandem, der deswegen Anzeige erstatten würde – die abhanden gekommenen Aufzeichnungen aller Diebstähle, die er in 25 Jahren begangen hat, zurückholen. Nach zwei unumgänglichen Morden übergibt St. Ives die Geschäftsbücher ihrem rechtmässigen Besitzer, doch es fehlen die entscheidenden vier Seiten, jene mit dem detaillierten Plan für Procanes nächsten Coup, der ihm endlich einen Platz in der exquisiten Gilde der Millionenräuber sichern würde. Für St. Ives gilt es nun, die gegnerische Gang daran zu hindern, das Ding nach Procanes Anleitungen durchzuziehen und ihm dann in die Schuhe zu schieben. Staubtrockene Dialoge, komische Szenen und sarkastische Sprüche, vereint mit einzelnen tiefgründigen Passagen – die einwandfrei geplottete Geschichte garantiert vergnügliche Lesestunden.
Zum Porträt: Thomas, Ross
Attica Locke: ‘Pleasantville’ – ‘Pleasantville’, 2015
Pleasantville, ein 1949 aus dem Boden gestampftes Viertel in Houston, Texas, wird hauptsächlich von betuchten Afroamerikanern bewohnt. Es ist Schauplatz von Lockes zweitem Krimi um den Rechtsanwalt Jay Porter – inzwischen Mitte vierzig und Vater von zwei schulpflichtigen Kindern, Ellie und Ben -, der seine Kanzlei nach dem ein Jahr zurückliegenden Krebstod seiner Frau Bernie etwas schleifen liess.
Die Geschichte spielt in den letzten Wochen vor der Bürgermeister-Stichwahl, bei der sich mit der weissen republikanischen Staatsanwältin Sandy Wolcott und dem schwarzen demokratischen Ex-Polizeichef Axel Hathorne (Sohn von Sam, dem mächtigsten Mannes der Stadt) zwei Law-and-Order-Kandidaten gegenüberstehen, wobei Hathorne in letzter Zeit an Boden verloren hat. Die Stimmung im Quartier wird weiter aufgeheizt, als die junge Wahlkampfhelferin Alicia verschwindet, nachdem sie Anti-Hathorne-Flugblätter verteilt hat. Sie ist bereits das dritte Mädchen seit 1994, das in Pleasantville entführt wird, die beiden anderen wurden nach sechs Tagen ermordet aufgefunden, und dies geschieht auch dieses Mal. Zur allgemeinen Überraschung fällt der Verdacht auf Noel Hathorne, den Wahlkampfmanager seines Onkels. Unter Druck gesetzt von Sam, übernimmt Porter contre coeur die Verteidigung des Angeklagten – und sticht in ein Wespennest. Am Ende zeigt sich, dass die Morde nicht das geringste mit der Bürgermeisterwahl zu tun hatten, für den Wahlkampf jedoch auf äusserst widerwärtige Weise ausgeschlachtet worden sind.
‘Pleasantville’ ist eine sorgfältig gestaltete, von komplexen Figuren getragene Mischung aus Mordgeschichte, Justiz- und Politroman, wobei Locke vor allem die grassierenden Wahlintrigen und -manipulationen und die damit einhergehende Zersetzung der Demokratie an den Pranger stellt. Darüber hinaus kommen gesellschaftliche und innerfamiliäre Konflikte und Porters alte Fälle zur Darstellung. Herrliche innere Monologe des Protagonisten runden die Lektüre ab. “Jay hat den dummen Gedanken, dass es in dieser chemieverseuchten Stadt völlig umsonst war, das Rauchen aufzugeben. Er könnte genau so gut eine Zigarette bei Sam schnorren, damit er sich nicht mehr quälen muss, und er könnte des Rest seines Lebens mit einem Freund, der ihm immer zur Hand ist, verbringen. Was ist schon dabei? Bernie hat nie geraucht und nie getrunken, sie hat überhaupt nie etwas Schädlicheres getan, als genau die Luft zu atmen, die gerade in Jays Lunge brennt.”
Zum Porträt: Locke, Attica
Larry Beinhart: ‘The Deal Goes Down’, 2022 (bisher keine deutsche Übersetzung)
Dreissig Jahre nach ‘Zahltag für Casella’, dem letzten Band einer viel gelobten Trilogie, erlebt Tony Casella in ‘The Deal Goes Down’ ein unverhofftes Comeback: als tief verschuldeter siebzigjähriger Haudegen, der in den Catskill Mountains, unweit von Woodstock, seit zwanzig Jahren ein einsames Leben führt – seine Frau und sein Sohn sind vor Jahren gestorben, und seine in Frankreich lebende Tochter hat den Kontakt zu ihm daraufhin abgebrochen. Da trifft Tony auf Maddie, die von seiner beruflichen Vergangenheit weiss und ihn darum bittet, ihren millionenschweren, sexsüchtigen und gewalttätigen Ehemann Mick gegen ein Honorar von 100’000 Dollar, für das ihre Anwältin Liz aufkommt, aus dem Weg zu räumen. Tony engagiert die ihr Studium mit Sexarbeit finanzierende Allison als Köder. Mick fällt prompt darauf rein. Verliert, als seine Begleiterin ihn manuell stimuliert, die Kontrolle über sein Auto und stirbt – und Tony hat hundert Riesen auf dem Konto für einen Mord, den er nicht begangen hat.
Doch die wahren Prüfungen stehen dem alten Schnüffler erst bevor, denn mindestens zwei andere Männer wussten von Maddies Plan: Tonys durchtriebener Ex-Partner Cohen und ein vor wenigen Tagen gewaltsam umgekommener früherer Cop. Zudem stellt sich ihm die Frage, ob Liz wirklich nichts anderes antreibt, als in Not geratene Frauen zu retten, oder ob nicht vielmehr Geldgier ihr wahres Motiv darstellt. Trotz seiner Bedenken akzeptiert Tony nun auch Liz’ folgenden Auftrag, einen Oligarchen umzulegen, der seiner jungen Frau das Leben zur Hölle macht. Unterstützt durch Allison, erledigt Tony auch diesen “Rescue the Girl and Kill the Bad Guy”-Job zur allseitigen Zufriedenheit.
‘The Deals Goes Down’ ist ein origineller Noir mit satirischen und schwarzhumorigen Passagen und einem farbigen Figurentableau. Zur Freude gereichen auch die kurzen Auftritte von Casellas Buddy Larry Beinhart, der seit Jahren in Woodstock lebt. Und die Verweise auf Musik, Philosophie und Literatur, namentlich Beinharts berühmten Politthriller ‘American Hero’ und dessen Verfilmung ‘Wag the Dog’.
Zum Porträt: Beinhart, Larry