(1935-2008)

Julian Rathbone wurde im Londoner Stadtteil Blackheath als Sohn eines unverheirateten Lehrerpaars geboren, wuchs in Liverpool auf, und ging in Dorset zur Schule. Nach seinem 1958 abgeschlossenen Englischstudium am Magdalen College in Cambridge verbrachte er drei Jahre als Englischlehrer in der türkischen Hauptstadt Ankara, wo er mit grosser Armut konfrontiert wurde. 1962, nach dem Unfalltod seines Vaters, kehrte er nach England zurück, um zuerst in London, später in Bognor Regis, West Sussex, in der Nähe seiner Mutter, zu unterrichten. 1973 heiratete er die 20-jährige Alayne Pullen, eine seiner ehemaligen Schülerinnen, mit der er einen Sohn und eine Tochter hatte. Nach längeren Aufenthalten in Spanien und Frankreich liess sich die Familie im New Forest an der englischen Südküste nieder.

Julian Rathbone, politisch links stehend, ein brillanter, durch Graham Greene und Eric Ambler, aber auch die Philosophen Herbert Marcuse und George Lukacs inspirierter Stilist, veröffentlichte von 1993 bis 2007 knapp vierzig Romane, eine Handvoll Kurzgeschichten, eine Monografie über General Wellington und unzählige Beiträge für Zeitungen und Magazine. Nach langer Krankheit starb er 73-jährig in Thorney Hill, Hampshire.

Rathbones erster Roman ‚Für eine Handvoll Diamanten‘ bildet den Auftakt zum so genannten Türkei-Quartett, das mit farbigen Darstellungen des türkischen Brauchtums angereichert ist. Eine wichtige Rolle spielt jeweils Colonel Nur Arslan aus Ankara, Leiter einer Abteilung, die sich mit Fällen beschäftigt, die Ausländer betreffen. Der hartnäckige, sprachgewandte und unbestechliche Polizist ist Sohn des Antiquitäten- und Waffen-, eventuell auch Opiumhändlers Refik Arslan, der seine Zelte in der Ägäis-Hafenstadt Izmir aufgeschlagen hat.

Jonathan Smollett, Englischlehrer in Ankara mit harten Fäusten, wird in ‚Für eine Handvoll Diamanten‘ durch puren Zufall in eine finstere Intrige verwickelt, die offenbar den Sturz der türkischen Regierung zum Ziel hat. Als seine Freundin Helena, unglücklich verheiratete Mutter eines fünfjährigen Jungen, bei einem Attentat beinahe getötet wird, sinnt Smollett auf Rache – und wächst über sich hinaus.

‚Die Geheim-Order‘ dreht sich um eine schwer, aber diskret bewachte sowjetische Anlage im gebirgigen türkisch-russischen Grenzgebiet. Getarnt als Tourist reist der englische Spion Adrian Hand von Ankara aus dorthin, um die Einrichtung (eine Raketenabschussbasis?) zu fotografieren, doch kommunistische Agenten sowie die türkische Armee und Polizei heften sich an seine Fersen, jede Partei mit eigenen, höchst komplizierten Motiven. Hand gelingt es zunächst, seine Verfolger abschütteln, indem er einen Mercedes in die Luft jagt und vier Männer tötet. Getarnt als taubstummer Penner versucht er sich nach Altalya durchzuschlagen, um von dort aus mit einem Flugzeug nach Ankara zu gelangen und den Film in der britischen Botschaft abzuliefern. Das Netz zieht sich immer enger zusammen, bis es Colonel Nur Arslan gelingt, den heiklen Fall einer gerechten Lösung zuzuführen.

‚Der Messerwerfer‘ erzählt von den Abenteuern des Messerwerfers Aziz Milyutin aus Aserbeidschan, den nicht weniger als drei Geheimdienste – CIA, KGB und Mossad – im Visier haben, weil sie ihn mit seinem eben erst ermordeten Zwillingsbruder Akim verwechseln. Doch der schlaue und beherzte junge Mann, ausgerüstet mit vier Messern mit silbernen Griffen, legt sie alle rein – und kann sich schliesslich seinen Traum erfüllen: Er wird Bauer in der Türkei, dem Land seiner Väter.

Im letzten Band seines türkischen Quartetts, ‚Das Geheimnis der Bronzestatuen‘, behandelt Rathbone alle Aspekte des Opiumanbaus in der Türkei – wichtigste Einkommensquelle für Tausende Bauern, aber auch äusserst lukratives, von der Regierung geduldetes Geschäft für Grosshändler, die Rohopium für 50 Dollar pro Kilo erwerben und in New York als veredeltes Heroin für 250’000 Dollar verkaufen. Doch jetzt ist ein Dealer ermordet worden, ein Bandenkrieg bahnt sich an, und der türkischen Polizei bleibt nichts anderes übrig, als dem Treiben endgültig ein Ende zu setzen. Im Mittelpunkt stehen Edward Amberley, stolzer Besitzer von 24 selbst entwickelten motorisierten Pflügen, die er in Izmir an einer Messe ausstellen möchte; die schöne Türkin Lilak Adler, die den naiven Engländer trickreich für ihre Zwecke benützt; die junge, von einem schrecklichen Ereignis gezeichnete britische Archäologin Diana Ashington; der über Leichen gehende Drogenboss Barish Uz; sowie Nur Arslan, der Barish aus dem Verkehr zu ziehen muss, ohne seinen gerissenen, möglicherweise mit Barish unter einer Decke steckenden Vater Refik (Lilaks Onkel!) zu gefährden.

‚Carnival‘ spielt 1976, in der brüchigen Zeit nach der portugiesischen Nelkenrevolution und Francos Tod. Verbotene Liebesspiele, Vogelgezwitscher und Karneval im spanisch-portugiesischen Grenzgebiet, doch idylle und Feststimmung werden jäh gestört, als ein führendes Mitglieds einer spanischen Landarbeitergewerkschaft ermordet wird. Die spanischen Behörden behaupten, die Tat sei von portugiesischen Anarchisten verübt worden, der junge britische Kriegshistoriker Colin „Shed“ Shedfield, der hier mit drei Kumpeln einen Film über Wellingtons Spanienfeldzug dreht, zweifelt indes an dieser Version – und kommt den finsteren Machenschaften eines internationalen Agrarkonzerns in die Quere.

Drei kühl und nüchtern erzählte, in der fiktiven Nordseeprovinz Brabt spielende Politkrimis drehen sich um den ebenso integren wie pedantischen Polizeibeamten Jan Argand, dessen verrückte Frau in einer psychiatrischen Klinik vegetiert. ‚Die Umwelt-Gangster‘ handelt von dem multinationalen Chemiekonzern EUREAC, der gegen den Widerstand von Umweltschützern expandieren will. Doch dann verschwindet der EUREAC-Direktor spurlos. Entführung? Freiwilliges Untertauchen? Argand stösst bei seinen Ermittlungen auf eine unglaubliche Verschwörung, an der auch die Polizei beteiligt ist. In ‚Vorsicht, Polizei!‘ plant eine mächtige faschistische Sekte den politischen Umsturz in Brabt, es kommt zu undurchsichtigen rot-braunen Verwicklungen. Teil 2 der Argand-Trilogie ‚Base Case‘ ist nicht ins Deutsche übersetzt worden.

‚Grünfinger‘ ist eine ausgefeilte Geschichte um den Lebensmittel-Multi AFI, dessen Umsätze durch die besonders ertragreiche, in Zentralamerika wild wachsende Maissorte Zdt akut gefährdet sind. Eine von einem Nazi-Typen angeführte Schlägertruppe und ein ehemaliger SAS-Killer sollen das Problem für AFI definitiv lösen. Doch da gibt es noch das mutige Ehepaar Kid und Esther Carter‘. Als Kid stirbt, rächt sich seine Frau auf ihre Weise.

‚Gefährliche Spiele‘ kreist um den nach einem Flugszeugabsturz als tot erklärten Berufskiller und ehemaligen Soldaten und SAS-Mann Tom Cranmer, der im Auftrag eines Schweizer Multis jeden umlegt, der die lukrative Giftmüll-Entsorgung in die Ukraine behindern könnte. Cramners Zufallsbekanntschaft Inger Mahler, eine furchtlose Frau mit 68er-Seele, stellt sich ihm entgegen, nachdem sie zunächst seinem Charme erlegen ist. Der Stoff wurde 1994 als Zweiteiler für das deutsche Fernsehen verfilmt, die Hauptrollen spielten Nathaniel Parker und Gudrun Landgrebe.

Rathbones letzte auf Deutsch erschienene Werke sind die historischen Romane ‚Der letzte englische König‘ (Rathbones kommerziell erfolgreichstes Buch), eine komplexe, aus der Sicht des einzigen Überlebenden von König Harolds Leibwache erzählte Geschichte rund um die normannische Invasion Englands im Jahr 1066 (Schlacht von Hastings); ‚Die Könige von Albion‘, ein turbulenter Abenteuerroman aus der Zeit der englischen Rosenkriege; und der im 19. Jahrhundert angesiedelte Roman ‚Der Spitzel von Waterloo‘.

Nur im Original gibt es ferner die Öko-Cop-Thriller ‚Accidents Will Happen‘ und ‚Brandenburg Concerto‘ mit Renate Fechter als Leiterin einer norddeutschen Polizeieinheit gegen Umweltkriminalität sowie die Krimis ‚Homage‘ und ‚As Bad as it Gets‘ um Privatdetektiv Chris Shovelin aus Bournemouth, dessen Fälle ihn in die USA bzw. nach Kenia führen. 2007 beendete Rathbone seine literarische Laufbahn mit dem Roman ‚The Mutiny‘ über den grossen indischen Aufstand gegen die britischen Herrscher im Jahre 1857.

2003 ist die Anthologie ‚The Indispensable Julian Rathbone‘, eine Sammlung von Kurzgeschichten, Gedichten, Essays, Erinnerungen und Romanausschnitten, herausgekommen.

Bibliografie:

Türkei-Quartett: ‚Diamonds Bid‘ – ‚Für eine Handvoll Diamanten‘ (1967), ‚Hand Out‘ – ‚Die Geheim-Order‘ (1968), ‚With My Knives I Know I’m Good‘ – ‚Der Messerwerfer‘ (1969), ‚Trip Trap‘ – ‚Das Geheimnis der Bronzestatuen‘ (1972);

Jan Argand-Trilogie: ‚The Euro-Killers‘ – ‚Die Umwelt-Gangster‘ (1979), ‚Base Case‘ (1981), ‚Watching the Detectives‘ – ‚Vorsicht, Polizei!‘ (1983);

Renate Fechter-Romane: ‚Accidents Will Happen‘ (1995), ‚Brandenburg Concerto‘ (1998);

Chris Shovelin-Romane: ‚Homage‘ (2001), ‚As Bad as it Gets‘ (2003);

Einzelwerke: ‚Kill Cure‘ – ‚Tödliches Serum‘ (1975), ‚Bloody Marvellous‘ (1975), ‚King Fisher Lives‘ (1976), ‚iCarnival‘ – ‚Carnival‘ (1976), ‚A Raving Monarchist‘ (1977), ‚Joseph‘ (1979), ‚A Last Resort‘ (1980), ‚A Spy of the Old School‘ (1982), ‚Nasty, Very‘ (1984), ‚Lying in State‘ – ‚Der Katafalk‘ (1985), ‚ZDT‘ – ‚Grünfinger‘ (1986), ‚The Crystal Contract‘ (1988), ‚The Pandora Option‘ (1990), ‚Dangerous Games‘ – ‚Gefährliche Spiele‘ (1991), ‚Sand Blind‘ (1993), , ‚Intimacy‘ – ‚Querubin oder der letzte Kastrat‘ (1995), ‚Blame Hitler‘ (1997), ‚The Last English King‘ – ‚Der letzte englische König‘ (1999), ‚Trajectories‘ (1998), ‚Kings of Albion‘ – ‚Die Könige von Albion oder die abenteuerliche Reise eines indischen Prinzen nach England zur Zeit der Rosenkriege‘ (2000), ‚A Very English Agent‘ – ‚Der Spitzel von Waterloo‘ (2002), ‚Birth of a Nation‘ (2004), ‚The Mutiny‘ (2007).