(*1937)

Jerome Charyn wurde als Spross jüdischer Einwanderer in der New Yorker Bronx geboren und wuchs dort in bescheidenen Verhältnissen auf: Sam, sein harter, wortkarger, polnisch-stämmiger Vater, arbeitete als Kürschner für die Army, Fanny, seine schöne, ungebildete Mutter weissrussischer Herkunft, als Kartengeberin in einem der zahlreichen illegalen, von dem legendenumwobenen Mobster Meyer Lansky betriebenen Pokerclubs. Nachdem Jerome einige Erfahrungen als Kleinkrimineller gesammelt hatte – mit zwölf Jahren war er so etwas wie ein Schuldgelderpresser -, fand er mit vierzehn den Rank und begann eine Ausbildung an der Highschool of Music and Art in Manhattan, Schwerpunkt Malen. Danach studierte er Literatur und Geschichte an der Columbia University in New York City mit einem Abschluss 1959.

In den folgenden Jahrzehnten unterrichtete Charyn Englisch und Kreatives Schreiben in New York City, Stanford, Princeton, Paris und verschiedenen Colleges und Universitäten in New York State. Anschliessend, von 1995 bis 2009, war er Professor für Filmwissenschaft an der American University of Paris, weigerte sich jedoch standhaft, Fanzösisch zu lernen – aus Angst, seine eigene Sprache zu „verlieren“. Seit 2009 lebt er in einem Appartment im West Village (Greenwich Village, Manhattan) und widmet sich die meiste Zeit dem Verfassen von Romanen.

Nebenberuflich, inspiriert durch seinen älteren Bruder Harvey, der dreissig Jahre lang Cop bei der Mordkommission des NYPD war, begann Jerome Charyn im Jahr 1974 seine Laufbahn als Chronist der New Yorker Unterwelt, als Schöpfer der apokalyptischen, irrwitzigen Romane um Isaac Sidel, die im ethnischen Schmelztiegel der Lower East Side angesiedelt sind – in einem Sumpf von Gewalt, Rassismus, Korruption und organisierter Kriminalität mit fliessenden Übergängen zwischen Gesetzeshütern, Politikern und Mafiabossen, in einer bizarren, chaotischen Welt, der stets etwas Surreales anhaftet. Oder, in den Worten des Autors: „Die Sidel-Romane handeln von Menschen, die sich am Rande bewegen und zufälligerweise Polizisten sind. Sie verweigern sich dem Genre, sie haben keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende – sie passieren in einer Art Niemandsland“. Grosse Bedeutung haben stets auch Charyns Passionen Baseball, Tischtennis und Literatur.

Isaac Sidel, Jahrgang 1930, wie sein Gestalter als Spross jüdischer Vorfahren in New York City geboren, steigt im Verlauf der (unbedingt chronologisch zu lesenden!) Serie vom unbekannten Detective Inspector zum Angst und Schrecken verbreitenden Polizeichef auf, dann zum Bürgermeister, zum US-Vizepräsidenten der Demokraten und schliesslich zum mächtigsten Mann der Welt – und bleibt doch immer ein Strassenjunge aus der Bronx, der nie ohne seine Glock im Hosenbund aus dem Haus geht. Weshalb es Sidel so weit bringt? Weil er eine Mission hat; weil er Gesetze bricht und Menschen opfert; weil er zugleich Richter und Vollstrecker ist. Ein unbestechlicher Desperado. Ein mordender Romantiker. Ein Naturereignis.

Sidel ist aber auch ein einsamer, anarchistisch gesinnter, in einer mickrigen kleinen Wohnung an der Rivington Street wohnender Mann mit nicht mal hundert Dollar auf dem Konto, der bei jeder Gelegenheit in Tränen ausbricht. Entfremdet von seiner Stammfamilie – sein Vater Joel, einst ein erfolgreicher Handschuhfabrikant, lebt als Porträtmaler mit einer jungen Vietnamesin in Paris, seine verrückte Mutter Sophie betreibt in New York einen Trödelladen, bis sie von Jugendlichen zu Tode getrampelt wird, und sein kleiner kleptomanischer Bruder Leo steht ständig wegen Unterhaltsklagen vor Gericht – und von seiner irischen Ehefrau Kathleen, die sich in Florida mit Immobilien eine goldende Nase verdient; gequält durch einen Bandwurm, mit dem ihn einer seiner Feinde, der Boss der Guzmann-Familie, infiziert hat; unwiderstehlich angezogen von traurigen Menschen, von Witwen und Waisen; zerrissen von seiner Gier nach verheirateten, unerreichbaren Frauen – in ‚Secret Isaac‘ macht er der Anwaltsgattin Jennifer ein Kind, das er wohl nie sehen wird.

Seine grosse Liebe ist Magda Antonescu, alias Margaret Tolstoi, alias Prinzessin Anastasia, die er mit zwölf Jahren kennenlernte, als er mit ihr in New York die Schulbank drückte, eine faszinierende Frau rumänischer Herkunft, die einen Teil ihrer Kindheit in Odessa verbrachte, mit Hunderten Männern im Bett war und für alle möglichen Geheimdienste und das FBI ins Feld zieht – in mehreren Büchern prallen sie und Sidel wuchtig aufeinander. Und dann gibt es noch den umtriebigen New Yorker Kardinal Jim O’Bannon, Isaacs besten (und wohl einzigen wahren) Freund, der sich lieber um sein Baseballteam als um die Seelen seiner Schäfchen kümmert.

Charyns frühe Sidel-Romane ‚Blue Eyes‘ und ‚Marilyn the Wild‘ (zeitlich vor ‚Blue Eyes‘ angesetzt) gehören eigentlich dem blonden, unverschämt gut aussehenden Detective Manfred Coen, genannt Blue Eyes – leidenschaftlicher Ping-Pong-Spieler, geschiedener Vater zweier Töchter und unfreiwilliger Frauenheld jüdisch-polnischer Herkunft mit unwiderstehlichen blauen Augen, dessen Eltern vor vielen Jahren durch eine Gangsterbande (den peruanischen, in der Bronx ansässigen Guzmann-Clan, der in Charyns frühen Romanen immer wieder für schlechte Stimmung sorgt) in den Tod getrieben wurden -, während Sidel Isaac, seine grosse Zeit beginnt erst nach Coens gewaltsamem (von ihm mitverschuldetem) Tod, hier noch etwas am Rande verharrt. Die dem zweiten Buch den Titel gebende, mit Manfred Coen in eine heisse Affäre verstrickte „femme fatale“ Marilyn ist Sidels liebestolle, männerverschlingende Tochter, die ihren Vater immer wieder bis aufs Blut provoziert.

In ‚Patrick Silver‘ ist Sidel hinter dem Kindermörder Jeromino her, dem ältesten und schwachsinnigsten der fünf Söhne der Familie Guzmann, die alle aus verschiedenen Gebärmüttern stammen, und von denen nur einer – Jesus, der jüngste – die Grundschule abschliessen konnte. Jerominos Bodyguard Patrick Silver, ein irisch-jüdischer Guinness-Säufer Ende vierzig, der stets ohne Schuhe, mit stinkenden Socken durch die Grossstadt läuft und im Hauptberuf eine Synagoge bewacht, war früher Sidels Cop-Kollege. Und verliebt sich jetzt hoffnungslos in die (ebenfalls dem Guzmann-Clan angehörende) Pornokönigin Odile Leonhardy, was seinem Oberstübchen nicht gut tut. Am Schluss liegt Jeromino im bereits etwas überfüllten „Familiengrab“ – und die verbliebenen Guzmanns wickeln ihre kleinen, schmutzigen Geschäfte fürderhin in Barcelona ab.

‚Secret Isaac‘ sieht Isaac Sidel erstmals ganz allein im Mittelpunkt. Der noch immer seinem (am Ende von ‚Blue Eyes‘ durch einen chinesischen Killer erschossenen) Ziehsohn Manfred Coen nachtrauernde und von Schuldgefühlen zerfressene Bulle befindet sich auf einem seiner gefürchteten Feldzüge. Er lebt in einem heruntergekommenen Hotel im Nuttenquartier, streift in alten Lumpen durch die Gegend und trifft dabei auf die blutjunge, durch ihren Mann, den mächtigen Luden Dermott Bride, gebrandmarkte Prostituierte Annie Powell, die ihn in ihren Bann zieht. Kurz danach wird das Mädchen ermordet. Die Jagd nach dem Killer führt den James Joyce-Verehrer Sidel nach Dublin und schliesslich zu einem gigantischen irischen Zuhälterring, dessen Ausläufer bis in die höchsten New Yorker Polizeikreise reichen.

Die Ivanhoes – Sidels illegales Netzwerk von geheimen Informanten -, der schwule Mafia-Anwalt Maurice Goodstein, der Mobster Jerry DiAngelis, sein unterbelichteter Bruder Teddy, sein Schwiegervater Izzy Wasser, der Kopf des Clans, und sein grosser Rivale Sal Rubino, der raffinierte Strippenzieher Frederic LeComte vom Justizministerium, der hochbegabte 12-jährige Waisenjunge Kingsley McCardle, der in einer Jugendstrafanstalt einsitzt und vielleicht gar kein Kind ist, eine geheimnisvolle rumänische Prinzessin namens… Anastasia sowie Baseball in vielen Facetten sind die wichtigsten Ingredienzien der nächsten (zwölf Jahre nach ‚Secret Isaac‘ erschienenen, aber nur kurze Zeit später spielenden) Folge ‚Der gute Bulle‘ – mit Sidel als frisch gebackenem New Yorker Polizeichef, der gegen die allgegenwärtige Korruption in den Krieg zieht und sich mit jedem anlegt, der ihm im Weg steht, auch mit dem Gouverneur oder der feschen Bürgermeisterin Rebecca Karp, seiner gelegentlichen Bettgefährtin. Bis er einen Schritt zu weit geht und – angeklagt des Machtmissbrauchs und der Bestechlichkeit – verhaftet und vor Gericht gestellt wird.

‚Maria‘ behandelt das Duell zwischen Carlos Maria Montalban – hoch angesehener Leiter eines New Yorker Schulbezirks, aber auch mit der Mafia verbandelter Drogenhändler, der seine Geschäfte mit Geldern finanziert, die für Lehrmittel und Schulspeisungen bestimmt sind – und Polizeipräsident Isaac Sidel, der sich weiterhin am liebsten auf den Strassen der Bronx aufhält, und zu Beginn der Erzählung einen Mordanschlag nur mit sehr viel Glück überlebt, nach zehn Stunden im Operationsaal und zwei Monaten im Koma. Zwischen den Fronten: Police Detective Carroll Brent – Gatte der millionenschweren Schönheit Diana und Schwiegersohn des mächtigen Bauunternehmers und Mafia-Mittelsmanns „Papa“ Cassidy -, ein junger, etwas naiver Cop, der für Sidel verdeckt gegen Maria ermittelt. Dann aber überspannt Maria den Bogen und wird durch den Mafiaboss Sal Rubino abserviert – der Funke, der das Pulverfass zündet: Es kommt zu einem blutigen Konflikt zwischen Rubino und dessen Intimfeind Jerry DiAngelis, mit Isaac Sidel als Kriegsberater des DiAngelis-Clans.

In ‚Montezumas Mann‘ befindet sich Bürgermeister-Kandidat Sidel wieder einmal im Clinch mit der Mafia, mit deren schillernden Repräsentanten Izzy, Jerry und Sal ihn ja schon lange eine eigentümliche Art von Hassliebe verbindet – und diesmal setzt Sidel seinen Fuss erstmals auf sizilianischen Boden. Die Erzählung dreht sich um kunstvoll hergestellte Holzpuppen, in denen Heroin von Palermo nach Manhattan verschoben wird – ein Sizilianer mit dem Spitznamen Montezuma war auf die brillante Idee gekommen. In einer tragenden Rolle: Joe Barbarossa, ein bereits von früheren Büchern her bekannter Urenkel des berühmten Nez Percé-Häuptlings Chief Joseph, ein hoch dekorierter Vietnam-Veteran und NYPD-Detective, in dessen Adern auch italienisches, irisches und ein Schuss afrikanisches Blut zirkuliert, Sidels derzeit bester Mann – eine Kreuzung aus Gesetzeshüter, Drogendealer und Profikiller. Und Sidels wilde Tochter Marilyn taucht endlich wieder aus der Versenkung auf – mit Joe Barbarossa im Schlepptau…

‚Abrechnung in Little Odessa‘ sieht einen langsam auf die sechzig zusteuernden Sidel, der sich einen Monat vor seinem Amtsantritt als Bürgermeister einmal mehr auf einen äusserst heiklen Undercover-Job einlässt: Er schlüpft in die Rolle des Penners Geronimo Jones, um die Knickerbocker-Boys zu vernichten, eine Gang, die New York City „von Bastarden, Niggern, Juden und anderem Gesindel“ säubern will. Dabei kann er sich wie immer auf seinen langjährigen direkten Untergebenen und jetzigen Nachfolger als Polizeichef Carlton Montgomery III, genannt Sweets, verlassen, einen baumlangen Schwarzen aus begütertem Haus mit einem Abschluss in Jura, und auch dessen ebenfalls schwarzhäutiger Intimus Albert „Wig“ Wiggens, der ungleich rabiater zu Gange ist, steht Sidel tatkräftig zur Seite. Als schärfster Gegner kristallisiert sich schliesslich Sidels finanzkräftiger Wahlkampfhelfer Quentin Kahn heraus, der in den Vereinigten Staaten einen äusserst lukrativen Handel mit blauäugigen osteuropäischen Kindern aufgezogen hat.

Auch in ‚El Bronx‘ ist Bürgermeister Isaac Sidel inkognito im Dschungel der Bronx unterwegs. Unterstützt durch seine Tochter Marilyn und seinen derzeitigen Schwiegersohn Joe Barbarossa, durch die „Bronx Major Crimes Brigade“, einen unabhängig vom NYPD operierenden, von dem aufstrebenden Staatsanwalt Brock Richardson geleiteten „Spähtrupp zur Bekämpfung der Schwerkriminalität“, und durch zwei beherzte Kids, Angel „Aljoscha“ Carpenteros und Marianna Storm, nimmt er das Gesetz in die eigenen Hände, als im Viertel ein wahnsinniger Bandenkrieg um Macht und Drogen ausbricht, in den durchgedrehte Killer, schmierige Politiker und bekiffte Cops, aber auch Strassenkinder verwickelt sind. Doch nicht genug damit: Die US-Baseballspieler stehen seit Wochen im Streik – eine Katastophe für Isaac Sidel und die Bronx.

‚Citizen Sidel‘, Charyns sperrigster und anspruchvollster – in unzählige, stets wieder fallen gelassene Handlungsstränge zerbröselter, mit literarischen Verweisen (vor allem auf Isaak Babels autobiografischen Erzählband ‚Geschichten aus Odessa‘) gespickter – Roman, zieht uns Leser auf gerade mal 180 Seiten mit einem besonders schillernden Figurenensemble in den Bann. Wir treffen auf die umstrittenen Cops Doug Knight und Doug Knight Junior, Vater und Sohn, und auf Bart Grossvogel, den bösartigen Captain des Reviers Elizabeth Street, die aus ‚El Bronx‘ bekannten Teenager Marianna, frühreife und hochintelligente 12-jährige Tochter des Baseball-Zars und demokratischen Präsidentschaftskandiaten J. Michael Storm, für den Sidel in den Wahlkampf zieht, und Angel, Graffiti-Künstler, abtrünniges Mitglied einer Jugendgang und Mariannas Herzbube, auf Bull Latham, den abgebrühten Boss des FBI, Calder Cottonwood, den schwächelnden amtierenden US-Präsidenten, und Tim Seligman, den Chefstrategen der Demokraten; ferner (einmal mehr) auf Sidels geheimnisvolle Jugendliebe Margaret „Anastasia“ Tolstoi; und einen gebrechlichen 85-jährigen Rumänen namens Ferdinand Antonescu, der seit dem Zweiten Weltkrieg als „Schlächter von Bukarest“ bekannt ist – und Anastasia geehelicht hat, als sie ein kleines Mädchen war. Und auf die traurige Kampfratte Raskolnikow, Sidels symbolbeladenes Maskottchen.

Im elften Buch der Isaac Sidel-Serie ‚Unter dem Auge Gottes‘, herausgekommen 2012, dreizehn Jahre nach ‚Citizen Sidel‘, ist Jerome Charyn im Jahr 1988 angelangt. Noch-Bürgermeister Sidel, designierter Vizepräsident der USA mit guten Aussichten auf das höchste politische Amt des Landes, läuft noch einmal zu grosser Form auf: Als gerissener Cop, als Beschützer der Bronx im Kampf gegen korrupte Politiker und gefrässige Immobilien-Spekulanten. Seine letzten Wochen in Manhattan, bevor es ins Weisse Haus geht, verbringt er im geschichtsträchtigen Hotel Ansonia – Caruso, Toscanini, Mahler, Strawinsky und Jehudi Menuhin, Jack Dempsey, Babe Ruth und viele andere Berühmtheiten haben dort gehaust; vor allem aber Arnold Rothstein, zu Beginn des 20. Jahrhundert der „König des Verbrechens“, den Sidel zu seinem Leidweisen nicht kennen lernte. Dafür begegnete er im Jahr 1940 erstmals Rothsteins (fiktivem) Zögling David Pearl, mit dem sein Vater Joel damals fruchtbare Kontakte knüpfte. Im Ansonia trifft Sidel jetzt, nach fast einem halben Jahrhundert, wieder auf den zum Multimilliardär aufgestiegenen Finanzjongleur Pearl, der den Hotelkomplex beherrscht und von hier aus seine zwielichtigen Geschäfte in der Bronx abwickelt, sowie auf dessen unglückliche Gespielin Trudi Winckleman, genannt Inez, Mutter zweier Kinder und ehemalige Buchhalterin einer Bordellkette in New Orleans, in die er sich unsterblich verliebt. Dies hindert Sidel jedoch nicht daran, ein weiteres (vielleicht letztes Mal) im grossen Stil und ohne Rücksicht auf Verluste den Sündenpfuhl Manhattan auszumisten – der von Leichen gesäumte Weg führt ihn vom Hotel Ansonia nach San Antonia, Texas, und dann zurück nach New York City.

Januar 1989: Isaac Sidel ist frisch inaugurierter Präsident der Vereinigten Staaten. Sein einziger Plan: Abschaffung der Armut im ganzen Land. Seine grössten Feinde: Vizepräsident und ex-FBI-Chef Bull Latham, ein Republikaner (!);  die herrschsüchtige und intrigante Stabschefin Ramona Dazzle; Gangster unterschiedlicher Couleur, die gemeinsam mit reichen, einflussreichen Männern auf den Zeitpunkt seines Todes setzen, und ihm eine „Winterwarnung“  – eine Postkarte mit der Zeichnung eines Eispickels in seinem Auge – zuspielen. Und überall lauern Attentäter, während der Ostblock in seine Einzelteile zerfällt. Doch dann schlägt Sidel eine gigantische Häftlingsrevolte auf Rikers Island nieder – und avanciert zum Helden der USA. ‚Winterwarnung‘ (im Original noch nicht erschienen!) stellt einen würdigen Abschluss  der Isaac Sidel-Saga dar. Sie endet mit Sidels Worten: „Ja wirklich, ich habe Glück, dass ich noch lebe“.

Aus dem Jahr 1998 stammt Charyns grossartiges Einzelwerk ‚Der Tod des Tango-Königs‘ mit dem Hauptschauplatz Kolumbien (die Kokain-Metropole Medellin, „Welthauptstadt des Mordes“; der Urwald des Amazonas-Beckens; die Strassenschluchten Bogotas) und folgenden Protagonisten: Ruben Falcone, gleichzeitig Boss des gigantischen Kokainkartells und menschenfreundlicher Umweltschützer; Falcones Cousine Yolanda Ramirez, allein erziehende Mutter des kleinen Benjamin und gescheiterte Bankräuberin, die ein obskurer – durch Mister Bruno und Professor Sparks verkörperter – US-amerikanischer Geheimdienst aus dem Gefängnis holt und als Lockvogel anheuert, um Falcone endlich aus dem Verkehr zu ziehen; Rudolfo, der siebenjährige König der Strassenkinder und Serienmörder, der schliesslich doch noch in einer Schule landet. Daneben Todesschwadronen; indianische „Vogelmenschen“, die mit selbst gebauten Flügeln im Regenwald herumflattern; der berühmte Romancier Bailen, frisch gebackenes Staatsoberhaupt Kolumbiens, der Falcone zum Umweltminister macht; und nicht zuletzt die Titelfigur Guillermo Gaudi, ein Legenden umwobener Tango-Tänzer und analphabetischer Bandit, der 1940 ermordet wurde. ‚Der Tod des Tango-Königs‘ ist ein faszinierendes, in einem unverwechselbaren Sprachstil gestaltetes Spiel mit Genres, bzw., in den Worten des Autors: Eine „kreative Halluzination“.

Erik Holdermann, geboren im Berliner Scheunenviertel, Vollwaise mit neun, danach in einem Waisenhaus von Prostituierten erzogen, verliebt sich mit zwölf unsterblich in die drei Jahre ältere Halbjüdin Lisa, die Tochter des jüdischen Magnaten und Philantropen Baron Wilfrid von Hecht, der ihn aus dem Waisenhaus holt. Später geht Erik an die Kadettenschule in Kiel, und mit siebzehn rettet er unwissentlich dem deutschen Abwehrchef Admiral Wilhelm Canaris das Leben. Dieser nimmt ihn unter seine Fittiche, nennt ihn Cesare nach dem somnambulen Mörder des Films ‚Das Cabinett des Dr. Caligari‘ und bildet ihn zum Meisterspion und Killer aus. Erik bezieht daraufhin wieder Wohnsitz in dem vorwiegend von Juden bevölkerten Scheunenviertel, wo er seine Nächte in einem Sarg verbringt. Canaris wird von Charyn als schillernde und widersprüchliche Gestalt dargestellt: Er ist ein treuer Diener des Nazi-Régimes, das er im Grunde verachtet, dem er aber auch seine Privilegien verdankt, und unterstützt Cesare dabei, Juden vor der Deportation zu bewahren. Auch Lisa ist eine unberechenbare Person: Sie heiratet einen SS-Oberst, um sich und ihren Vater zu schützen, ist andererseits ein führendes Mitglied der jüdischen Widerstandsbewegung, und wird deshalb in das „Vorzeigelager“ Theresienstadt (die Vorhölle von Auschwitz) verschleppt. Darüber hinaus beweist Charyn einmal mehr sein feines Händchen für unvergessliche Nebenfiguren jeder Couleur. ‚Cesare‘ ist ein düsterer, verstörender, aus Fakten und Fiktion zusammengesetzter Historienthriller über das bereits dem Untergang geweihte Dritte Reich mit detailreichen Schilderungen des Lebens in der deutschen Hauptstadt; eine mitreissende, ohne Schwarzweissmalerei und Sentimentalität erzählte Geschichte über Liebe, Sühne, Schuld und Verrat.

Jerome Charyn verfasste überdies die historischen Romane ‚The Green Lantern‘ (stalinistisches Russland), ‚Johnny One-Eye‘ (Amerikanische Revolution), ‚I Am Abraham‘ (Sezessionskrieg) und ‚The Secret Life of Emily Dickinson‘, die atemberaubende New Yorker Gangstergeschichte ‚Paradise Man‘ mit dem vielschichtig gezeichneten Berufskiller Holden als Hauptperson, die autobiografisch gefärbten Romane ‚Die dunkle Schöne aus Weissrussland‘ (der Titel nimmt Bezug auf Charyns Mutter, die eine ausserordentlich attraktive Frau gewesen sein muss), ‚Der schwarze Schwan‘ und ‚Bronx Boy‘; ‚Movieland‘, eine überschäumende Liebeserklärung an Hollywood; ‚Metropolis‘, ein Porträt von New York City in der Ära des legendären jüdischen Bürgermeisters Ed Koch; ‚Gangsters & Gold Diggers‘ über die „Roaring Twenties“ am Broadway; und weitere Sachbücher, unter anderem über Baseball, Tischtennis, Isaak Babel, Quentin Tarantino und Marilyn Monroe; ferner Kurzgeschichten, die Anthologie ‚Dunkle Engel‘, Hörspiele, Kinder- und Jugendbücher, Comic-Texte für renommierte Zeichner wie Jacquel de Loustal, Francois Boucq und José Munoz, und Liedtexte für seinen 2013 verstorbenen Freund Georges Moustaki.

Bibliografie:

Isaac Sidel-Serie: ‚Blue Eyes‘ – ‚Blue Eyes‘ (auch unter dem Titel ‚Ping Pong Päng‘!, 1974), ‚Marilyn the Wild‘ – ‚Marilyn the Wild‘ (auch unter dem Titel ‚Die wilde Marilyn‘, 1976), ‚The Education of Patrick Silver‘ – ‚Patrick Silver‘ (auch unter dem Titel ‚Die Erziehung des Patrick Silver‘, 1976), ‚Secret Isaac‘ – ‚Secret Isaac‘ (auch unter dem Titel ‚Isaacs Geheimnis, 1978), ‚The Good Policeman‘ – ‚Der gute Bulle‘ (1990), ‚Maria’s Girls‘ – ‚Maria‘ (1992), ‚Montezuma’s Man‘ – ‚Montezumas Mann‘ (1993), ‚Little Angel Street‘ – ‚Abrechnung in Little Odessa‘ (1994), ‚El Bronx‘ – ‚El Bronx‘ (1997), ‚Citizen Sidel‘ – ‚Citizen Sidel‘ (1999), ‚Under the Eye of God‘ – ‚Unter dem Auge Gottes‘ (2012), ‚Winter Warning‘ – ‚Winterwarnung‘ (2017);

Einzelwerke: ‚Paradise Man‘ – ‚Paradise Man‘ (1987), ‚Elsinore‘ (1991), ‚Death of a Tango King‘ – ‚Der Tod des Tango-Königs‘ (1998), ‚Hurricane Lady‘ – ‚Tödliche Romanze‘ (2001), ‚Cesare‘ (2020).