(Kürzel für Barbara Margaret Gill, 1921-1995; schrieb auch als Margaret Blake und Barbara Gilmour)
B.M. Gill kam in Holyhead, der grössten Stadt der nordwalisischen Insel Holy Island, Grafschaft Anglesey, als Tochter eines irischen Seemanns und einer aus walisischen Mutter auf die Welt. Sie besuchte die Klosterschule ‘Le Bon Sauveur’ in Holyhead und danach das Redland College in Bristol, ehe sie eine Stelle als Sekretärin der Leuchtturmbehörde Trinity House in Holyhead antrat. Mit 21 Jahren heiratete sie einen Mann namens Trimble und hatte mit ihm einen Sohn, Roger, doch die Ehe hielt nicht lange.
Die alleinerziehende Mutter arbeitete daraufhin vier Jahre als selbständige Podologin und vierzehn Jahre als Grundschullehrerin. In dieser Zeit schrieb sie ihre ersten Radioskripts und Kurzgeschichten sowie, als Margaret Blake, eine Reihe von romantischen Spannungsromanen, die sich recht gut verkauften. 1977 kehrte sie auf die Inselgruppe Anglesey zurück, nahm wieder ihren Mädchennamen an und begann eine Laufbahn als Krimiautorin. Ihr Werk enthält (neben den acht mit Margaret Blake gezeichneten Romantik-Thrillern) die Trilogie um Detective Chief Inspector Tom Maybridge und sechs Einzelwerke, darunter ‘Der zwölfte Geschworene’ und ‘Herzchen’, ihre bekanntesten Beiträge zur Kriminalliteratur.
‘Der zwölfte Geschworene’ behandelt den spektakulären Mordfall Carne. Der charismatische Fernsehmoderator Edward Carne wird angeklagt, seine Frau ermordet zu haben, und im Londoner Old Bailey treten zwölf Geschworene zusammen, um ein Urteil zu fällen. Carnes Tochter Frances könnte ihren Vater entlasten, doch sie ist spurlos verschwunden, und die Verhandlung scheint auf einen Schuldspruch hinauszulaufen. Einer der Geschworenen, der arbeitslose Journalist Robert Quinn, verfügt jedoch über Insider-Wissen, denn bei ihm ist Frances untergekrochen. Und Quinn hält Carne für unschuldig.
Der Zweite Weltkrieg tobt, und England wird durch den “Blitz” gelähmt, als Zanny Moncrief, sechs Jahre alt und bildhübsch, ihren Stiefbruder, den kleinen Quälgeist Willie, aus dem Weg räumt und wenig später mit Willies siebenjähriger Schwester Dolly dasselbe versucht. Zannys selbstbetrügerischen, heuchlerischen Eltern versorgen ihre Tochter zur Sicherheit in einem katholischen Internat, und alles scheint sich zum Guten gewendet zu haben, bis das Mädchen mit fünfzehn für den viel älteren Klostergärtner Murphy zu schwärmen beginnt und ihre Konkurrentin, die Turnlehrerin Bridget, um die Ecke bringt. Gills schwarzhumoriger Krimi ‘Herzchen’ ist die Geschichte einer frechen, unbekümmerten Mörderin – das Produkt einer zutiefst verlogenen Gesellschaft, die nur ihr eigenes Wohl im Sinn hat.
DCI Maybridge, verheiratet mit der Restaurationsexpertin Meg, Vater eines erwachsenen Sohnes, ist ein sympathischer, emotionaler Ermittler; ein beleibter Brillenträger, dessen stechender Blick bei Verhören gefürchtet ist. Der erste, im Krankenhausmilieu spielende Band ‘Othellos letzte Probe’ sticht heraus. Er kreist um den renommierten Neurochirurgen Paul McKendrick, in dessen unmittelbaren Umfeld drei Sexualmorde geschehen – zu den Opfern gehören seine Tochter Maggie, eine angehende Krankenschwester, und seine Lebensgefährtin Harriet Brand, die Leiterin der Anästhesie. Der Taten verdächtigt wird der im Klinikarchiv angestellte Hobby-Violinist George Webber, Ehemann der seit zwei Jahren querschnittgelähmten Sue. Sue wurde damals erfolglos von McKendrick operiert und hat seither keinen Sex mehr mit ihrem Mann – sind die Delikte Racheakte eines frustrierten (sich bei den ersten Befragungen denkbar ungeschickt aufführenden) Mannes? Wichtige Rollen spielen aber auch Maybridges rüpelhafter und testosteron-gesteuerter Kollege Detective Sergeant Stannard, dessen liebenswerte, wenn auch reichlich naive Frau Tessa, die eng mit Sue befreundet ist, sowie Rachel Gray, die auf Rache sinnende Schwester des ersten Mordopfers, der auf McKendricks Abteilung tätigen Krankenschwester Sally. Scharfsinnig und kunstvoll entwirft die Autorin präzise Psychogramme ihrer Protagonisten.
Bibliografie:
Einzelwerke: ‘Target Westminster’ – ‘Zündstoff für das Parlament’ (1977), ‘Death Drop’ – ‘War es nicht eigentlich doch nur ein Unfall?’ (auch unter dem Titel ‘Blind in den Tod’, 1979), ‘The Twelfth Juror’ – ‘Der zwölfte Geschworene’ (1984), ‘Nursery Crimes’ – ‘Herzchen’ (1986), ‘Dying to Meet You’ – ‘Nocturno für eine Hexe’ (1988), ‘Time amd Time Again’ – ‘Die Zeit danach’ (1989);
Detective Chief Inspector Tom Maybridge-Serie: ‘Victims’ (auch unter dem Titel ‘Suspect’) – ‘Othellos letzte Probe’ (1980), ‘Seminar for Murder’ – ‘Seminar für Mord’ (1985), ‘The Fifth Rapunzel’ (1991).
Als Margaret Blake: ‘Stranger at the Door’ (1967), ‘Bright Sun, Dark Shadow’ (1968), ‘The Rare and the Lovely’ (1969), ‘The Elusive Exile’ (1971), ‘Courier to Danger’ (1973), ‘Flight from Fear’ (1973), ‘Apple of Discord’ (1975), ‘Walk Softly and Beware’ (1977).
Ein ganz großer Krimi in der eher kleinen Form (186 Seiten Taschenbuch, “Der zwölfte Geschworene”)! Eine Gruppe von Schöffen ist versammelt worden, jede/r einzelne plötzlich aus seinem/ihrem Berufs- und Privatleben gerissen. Eine extreme Tat, eine Frauenleiche und ein teils sehr löchriger Indizienbeweis ist zu bewerten, jede/r mit den eigenen Maßstäben der Moral, Logik und Gerechtigkeit. Als Gruppe der Schöffen, am Schluss sogar eingeschlossen in den Schöffenräumen, haben sie das unumgängliche Urteil über den Verdächtigen zu fällen.
B. M. Gill stellt diese zahlreichen Personen, “ihre Protagonisten”, individuell in “präzisen Psychogrammen” ausgeklügelt, “scharfsinnig und kunstvoll” dar, so wie die großen Meisterwerke (z. B. Simenon, Glauser, Sayers..). Unter dem Druck der Entscheidungssituation eines möglichst einstimmigen Urteils kommen sie in Bewegung. Das kann manche bis in Grenzbereiche des Wahnsinns bringen. Wie in allen wirklich guten Krimis lässt sich “nebenbei” etwas lernen; hier über die Arbeitsweise, Schwächen und Stärken von Schöffengerichten. (Und dass das englische Recht, anders als das schottische, keinen Freispruch aus Mangel an Beweisen kennt, sondern nur schuldig oder nicht).
Eine ausgesprochen coole, abgeklärte Autorin, die da – vom Rand der Insel, in weiter Distanz – sehr genau die “feinen Unterschiede” der britischen Gesellschaft beschreibt, wie sie hier mitten in London in Erscheinung treten: vom derben walisischen Schäfer über die englische Sekretärin oder Sprechstundenhilfe und den selbständigen Handwerker, manche mit hintergründig irischem oder schottischen Einschlag, bis zur umschwärmten, trickreichen Schauspielerin und dem selbstgefälligen Professor. Frauen bekommen ihre Tage, haben sexuelle Bedürfnisse, können lesbisch und trotzdem verheiratet sein. Männer sind gute Väter, wenn es drauf ankommt, eine Tochter kann mehrere solcher Väter haben. Ein ehemals Wohlsituierter kann nach dem Ende seines Berufslebens einige Straßenmusiker bei sich einziehen lassen und lebt mit dieser WG in seinem Haus besser, als wenn er nur einsam seine Orchideen pflegte… Es weht noch der Wind der “Alternativszene” durch dieses 1980er Jahres-Werk, aber stets im Understandment dieser klugen Autorin und in der runden, eher “kleinen” Form des Kriminalromans.
“Othellos letzte Probe” – Die Auflösung ist ein Knaller. Der Sex-Mörder kam aus Nachbars Schuppen. Aber der Weg dahin war für mich sehr mühsam zu lesen: Krankenhausangestellte und mit ihnen teilweise befreundete Polizisten, ziemlich konturlos in der Stagnation irgendeines Vororts. Der nächtliche Gang über das unbebaute Grünland stellt den (kriminalistischen) Höhepunkt der Woche dar. Geradezu öde, wie sich alle in ihren Häuschen und ihren Wagen gegenseitig belauern.
Jedoch für diesen Krimi könnte sprechen, dass die Autorin ihr Thema des unerfüllten Sexes hier sehr realistisch variiert.
Auch das “Seminar für Mord” ist geprägt vom hochwertigen Schreibstil der Autorin Barbara Margaret Gill. (Warum bloß blieb sie fast anonym?) Lesenswert ist dieser konventionelle Rätselkrimi wegen der gelungenen Charakterisierung: So viel Romanpersonal – die ungefähr 12 fiktiven Krimischreiber, die das “Seminar” versammelt – ohne weiteres auseinanderzuhalten, gelingt mir keineswegs in jedem Unterhaltungsroman.
Die Autorin nimmt einen großen Anlauf: Für eine große Gesellschaftssatire oder einen weiteren großen Justizroman hat sie sich die nötigen Voraussetzungen und Ingredenzien verfügbar gemacht. Aber springt dann leider nicht, sondern verbleibt in den konservativen Fesseln der britischen Rätselkrimi-Tradition – hier für das “Seminar” beschrieben:
* beschränkt auf ein gehobenes Bürgertum (vermögend, verbeamtet, gebildet) mit den üblichen Attributen (Auto, Ex, Haus, Steuerhinterziehung – die dargestellt wird !!, Geldanlage, Hochschulabschluss) – im Unterschied zu dem viel weiteren sozialen Spektrum im preisgekrönten Werk “12. Zeuge” derselben Autorin
* Schrullen dürfen gern sein, aber eine echte Überzeugung (hier die eines Chemikers, der seinen Beruf aus Gewissensgründen aufgegeben hat) gilt als anrüchig – auch ein deutlicher Unterschied zum “12. Zeugen”
* ein geschlossener Raum hinter ehrwürdigem Gemäuer – eine Klausur ebenso wie im “12. Zeugen”
* nur scheinbar zufällig Zusammengewürfelte, tatsächlich ist fast jede mit jedem verbandelt, gerade auch die scheinbar ungeselligen. – Im “12. Zeugen” ist nur dieser eine Zeuge selbst insgeheim verbandelt.
* Eine dieser Verbandelungen wird erst im Epilog aufgedeckt und stellt die Lösung dar: Für Leser/innen ist das ärgerlich!
Am Schluss kommt es zur konventionellen Täterüberführung. Den schalen Geschmack, der dabei verbleiben muss, bringt Autorin Gill für ihren frustrierten Kommissar Maybridge klar zum Ausdruck. Denn Strafrecht und drohender Knast – infolge der Auflösung des Krimis – greifen scharf in soziale Beziehungen ein, während der Unterschied zwischen legal und illegal angeeignetem Vermögen sich in der liberalen bürgerlichen Gesellschaft wenig scharf zeigt. Genau hier hätte die kluge Autorin Gill springen können, aber tut es nicht. Schade!
.
Gegen die Meinung einer deutschen Buchkritik aus 2018 (*), dieser Krimi Gills sei modern und zeitlos, spricht schon der unbestimmte Titel “Seminar für Mord”? Was soll er bedeuten?
Der ältere Bestsellerautor Grant, dessen Erfolge hinter ihm liegen, verschaffte sich in der Öffentlichkeit neues Ansehen, da er den Krimi-Preis “Goldene Guillotine” gestiftet hat. Jedes Jahr versammelt er den zugehörigen Club der unbekannten, oft auch ungedruckten, älteren Schriftsteller und vergibt den Preis per Abstimmung unter ihnen. Dieser Closed Shop des Mäzenaten ist zugleich der geschlossene Raum des Rätselkrimis.
Aus der diesjährigen Klausur der Krimischreiber machte Grant ein “Seminar für Mörder” (so der Original-Titel), da er den Kommissar Maybridge zum Vortrag über realistische Mord-Methoden einlud. Das kam nicht gut an, denn Verkannte lassen sich nur ungern darüber belehren, wie sie die Gestalten ihrer Fantasie mit mehr Realismus ausstatten sollten. Die Autorin enthüllt, schließlich in den Epilogen schonungslos, den Club der gekränkten Eitelkeiten.
Modern waren Autorenversammlungen zu Lebzeiten der Autorin, zum Beispiel im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS, 1969 gegründet) mit gewerkschaftlichen Zielen oder auch des PEN-Clubs.
Ist es heute noch modern, sich für Realismus in Kriminalistik, Justiz und Gesellschaft einzusetzen: Wäre ein Kommissar Maybridge heute bei einer Krimischreiber-Fortbildung noch zeitgemäß? Oder würde heute nicht eher ein Consultant des Tourismus- oder Stadtmarketings zu einem Seminar über “Regionalität mit Weinprobe” eingeladen?
Daher halte ich ihn nicht für modern. Ob dieser Krimi Gills zeitlos ist, mögen die Leser/innen selber beurteilen. Jedenfalls beherrscht die Autorin ihr Handwerk!
.
( * Quelle: http://buchwurm.org/barbara-m-gill-seminar-fuer-mord-inspector-maybridge-2/
P. S. zur Bibliografie: “Die Rapunzel-Morde” liegen ebenfalls als Übersetzung vor. )