(*1949)

Scott Frederick Turow ist ein Nachkomme einer jüdischen, aus Osteuropa stammenden Familie. Geboren in Chicago als Sohn eines Arztes und einer Lehrerin, absolvierte er das Amherst College und verbrachte dann fünf Jahre am Creative Writing Center der Stanford University, bevor er an der Harvard Law School in Cambridge, Massachusetts, Jura studierte und 1978 mit einem Doktortitel abschloss. Im selben Jahr kehrte er nach Chicago zurück, um bis 1986 für die Staatsanwaltschaft von Illinois zu arbeiten, Schwerpunkt Korruption und Steuerbetrug. Es folgten viele Jahre als Partner der renommierten, international tätigen Chicagoer Anwaltssozietät Sonnenschein, Nath & Rosenthal. In seiner Freizeit begann er 1987 zu schreiben. Von 1971 bis zur Scheidung 2008 war er mit der Künstlerin Annette Weisberg verheiratet. Mit ihr hat er einen Sohn und zwei Töchter. Heute lebt er mit seiner zweiten Frau, der Juristin Adriane Glazier, in Evanston, Illinois.

Turow („Grisham für Erwachsene“), ein unermüdlicher Kämpfer gegen die Todesstrafe, gilt als Vater des modernen amerikanischen Gerichtsromans. Sein Werk umfasst Essays für renommierte Printmedien, ‘One L’ über seine Zeit als Jurastudent (1977), das Sachbuch ‘Ultimate Punishment’ über die Todesstrafe (2003) sowie (Stand 2022) dreizehn Romane – verwickelte, von eindrucksvoll geschilderten Figuren und Familien getragene Geschichten, in denen er juristische Machtkämpfe mit grimmigem Humor realistisch in Szene setzt und grossen Wert darauf legt, den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit aufzuzeigen. Angesiedelt sind die Romane in dem fiktiven (dem Grossraum Chicago nachempfundenen) Kindle County. Das bringt es mit sich, dass manche Personen in mehreren Büchern anzutreffen sind. Dies gilt besonders für den gänzenden Strafverteidiger Alejandro “Sandy” Stern, 1935 in Argentinien geborener, in Echtzeit alternder Sohn jüdischer Eltern, die sich Ende der 40er-Jahre in den USA niedergelassen hatten. Sowie für den verbissenen, humorlosen, stets den Opfern verpflichteten Staatsanwalt Tommy Molto, dem sein Erfinder folgendes Bild gewährt: “Er sah nur selten den Wald, aber wenn man einen Baum fällen musste, war er genau der Richtige dafür.” Auch in Bezug auf die Journalisten hat Turow ein hübsches Bonmot auf Lager: “Sie sehen kaum mal die Flammen, spüren nie die Hitze, und trotzdem wollen sie allen was über das Feuer erzählen.”

Den Durchbruch schaffte Turow gleich mit seinem ersten Roman ‘Presumed Innocent’ ( ‘Aus Mangel an Beweisen’), der 1990 unter dem gleichen Titel in die Kinos kam (Alan J. Pakula führte Regie, Harrison Ford spielte die Hauptrolle). Er verknüpft darin eine Wahlintrige mit einem Mordfall. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des Ersten Stellvertreters der Bezirksanwaltschaft Rozat “Rusty” Sabich, mit der psychisch labilen Mathematikdozentin Barbara verheirateter Vater eines kleinen Sohnes namens Nat. Das Mordopfer ist seine Berufskollegin Carolyn Polhemus, mit der er bis vor einigen Monaten eine wilde, hoffnungslose Affäre hatte – eine bildschöne Frau mit beachtlichem Männerverschleiss und einer hinterhältig-opportunistischen Seite. Da der Bezirkssanwalt Horgan mitten im Kampf um die Wiederwahl für dieses Amt steckt, erteilt er Sabich den Auftrag, das Verbrechen in Zusammenarbeit mit der Polizei, vertreten durch Sabichs Freund Dan “Lip” Lipranzer, so rasch wie möglich aufzuklären. Horgans aussichtsreicher Konkurrent ist der durch Bürgermeister Augie Bolcarro portierte und den Haudegen Tommy Molto unterstützte Hardliner Nico Della Guardia, der die Wahl auch prompt gewinnt. Und Sabich, der damit den Job bei der Staatsanwaltschaft verlieren wird, fliegen die Fetzen um die Ohren, als er am Tag nach der Wahl aufgrund von Indizien unter dringenden Mordverdacht gerät. Sandy Stern übernimmt seine Verteidigung. Im zweiten Teil der Erzählung legt der Autor das Hauptgewicht auf die für enormes Aufsehen sorgende – einer Achterbahnfahrt entsprechende – Gerichtsverhandlung, gibt aber auch dem vielschichtigen Innenleben des Angeklagten viel Raum.

Zwanzig Jahre später, am 29. September 2008, sitzt Richter Rusty Sabich seit über zwanzig Stunden am Bett seiner Frau Barbara, die im Schlaf gestorben ist. Dann erst informiert er die Behörden. Barbara stand wegen ihrer bipolaren Störung unter ungezählten Psychopharmaka. Im ersten Teil des Romans ‘Innocent’ (‘Der letzte Beweis’) springt Turow zwischen den Monaten vor und nach Barbaras Tod und dem Frühjahr 2007, als das Drama seinen Anfang nahm, hin und her. Dabei kommen ausser Sabich (gerade sechzig geworden, ist er ein aussichtsreicher Kandidat für das Oberste Bundesstaatsgericht) auch sein aus ‘Aus Mangel an Beweisen’ bekannte Widersacher Staatsanwalt Tommy Molto, seine Referendarin Anna Vostic und sein 28-jähriger Sohn Nat zu Wort. Als bekannt wird, dass Rusty und Anna 2007 eine höchst intensive Liebesbeziehung geführt haben, wittert Molto die Chance, den Richter diesmal hinter Gitter zu bringen. Der zweite, chronologisch erzählte Teil dreht sich vorwiegend um die 2009 stattfindende Gerichtsverhandlung, wobei Sabich auch diesmal von Sandy Stern verteidigt wird. Überraschende Wendungen und Turows kluge Gedanken zur Komplexizität von zwischenmenschlichen Beziehungen sorgen für mitreissende, unvergessliche Lesestunden.

Sandy Stern und seine Familie, bestehend aus seiner langjährigen Gattin Clara, den drei gegensätzlichen Kindern Peter, Frauenarzt, Marta, Anwältin und Kate, Lehrerin, seiner ihm besonders nahe stehenden Schwester Silvia sowie Silvias Mann – und zudem Sandys wichtigster, aber auch schwierigster Klient – Dixon Hartnell, berüchtigter Schürzenjäger und höchst erfolgreicher Broker, bilden das Zentrum von Turows zweitem Roman ‘Die Bürde der Wahrheit’, der mit Claras völlig unerwartetem Suizid beginnt. Zu dieser Tragödie gesellen sich immense Sorgen um den stets in juristischen Grauzonen herumturnenden Dixon, der aufgrund unlauterer Transaktionen in den Fokus der Bundesanwaltschaft geraten ist und dringend der Hilfe seines in lähmender Trauer versunkenen Schwagers bedarf. Einzig Kates gleichentags bekannt gegebene Schwangerschaft hellt die Stimmung etwas auf. Im Fortgang der Erzählung legt Turow den Schwerpunkt auf Sandys zwischen Schuldgefühlen, Melancholie und überwältigenden sexuellen Gelüsten schwankende Gemütslage und auf das brüchige Gefüge der Familie Stern. Bei seinen halbherzigen Bemühungen, das Motiv für den Selbstmod seiner Frau zu finden, stolpert Sandy über zwei womöglich miteinander in Verbindung stehende Fakten, die ihn stutzig machen: Fünf Tage vor ihrem Tod liess Clara Papiere im Wert von 850’000 Dollar aus ihrem Bankdepot veräussern und überwies die Summe einem zunächst unbekannten Mann; und in dieser Zeit wurde bei ihr eine Herpes genitalis-Infektion nachgewiesen. Auf den letzten fünfzig Seiten führt Turow sämtliche Erzählstränge zu einem befriedigenden, kaum mehr Fragen offen lassenden Ende. Und Sandy findet zu unserer Freude neues Liebesglück.

‘Die Gierigen und die Gerechten’ lebt in besonderem Masse von den vielschichtigen Figuren und deren grossartigen Dialogen. Der auf Schadenersatzklagen spezialisierte Anwalt Robbie Feaver, unbekümmert, leutselig, seine unsichere, empfindsame Seite hinter grossspurigem Verhalten verbergend, ein perfekter Schauspieler und Showman, steht im Mittelpunkt. Er ist berüchtigt für seine sexuellen Eskapaden, kümmert sich aber trotzdem liebevoll um seine an ALS erkrankte Frau Lorraine, deren körperlichen Zerfall der Autor eindrucksvoll beschreibt. Zu Beginn der Romans gerät Feaver ins Visier der Justiz, als er der Steuerhinterziehung und der Bestechung von Richtern überführt wird. George Mason, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, übernimmt seine Verteidigung. Auf der Gegenseite steht der hochintelligente, aus einfachen Verhältnissen kommende Generalstaatsanwalt Stan Sennett, ein Gerechtigkeitsfanatiker, der alles dem Ziel unterordnet, mit Feavers Hilfe sämtliche korrupte Richter im Kindle County auffliegen zu lassen, insbesondere auch seinen Intimfeind Brendan Touhey, den Präsidenten des Zivilgerichts. Im Gegenzug soll Feaver mit einer bedingten Strafe und einer hohen Busse davonkommen. Der Plan besteht darin, Scheinfälle zu konstruieren, und Weaver für die Bestechungsverhandlungen zu verdrahten. Zudem besteht das FBI darauf, seine Agentin Evon Miller zur Überwachung des Anwalts in dessen Kanzlei einzuschleusen – auch sie eine Person mit vielen Facetten. Die Sache lässt sich gut an, bis Sennett auf eine entscheidende Lücke in Feavers Lebenslauf stösst, worauf sich den um ihre Pfründe bangenden Richtern die Möglichkeit eröffnet, das Ruder gerade noch herumzureissen.

‘Das Gift der Gewissheit’ ist die Geschichte eines Justizirrtums. Der einfältige Gauner Rommy “Squirrel” Gandolph wurde vor zehn Jahren wegen dreifachen Mordes zum Tod verurteilt, obgleich er seine Unschuld immer wieder beteuert hatte. Als jetzt seine Hinrichtung unmittelbar bevorsteht, gesteht der todkranke Sicherheitsbeamte Erno Erdai völlig überraschend und ziemlich glaubhaft die Morde. Es kommt zu einem spektakulären Berufungsprozess, in dem sich drei Juristen einen Kampf auf Biegen und Brechen liefern: Gandolphs Pflichterteidiger Arthur Raven, ein unscheinbarer, einsamer Mann Ende dreissig, die kratzbürstige und ehrgeizige Staatsanwältin Muriel Wynn und der für sie ermittelnde Detective Larry Starczek, ein robuster Cop mit Vietnam-Vergangenheit, der damals, vor zehn Jahren, mit Muriel eine heisse Affäre hatte, die jetzt wieder aufkocht. Zu ihnen gesellt sich Gillian Sullivan, die seinerzeit Gandolph verurteilt hat, danach wegen Bestechung eine mehrjährige Strafe absitzen musste, und jetzt allmählich wieder auf die Beine kommt. Sie unterstützt Arthur mit guten Ratschlägen. Es folgt eine wilde Wellenfahrt der Gefühle – nicht nur in Bezug auf den Kriminalfall, sondern auch auf die sexuellen Verwicklungen der vier sich bei der Suche nach der Wahrheit aufreibenden Schlüsselfiguren.

Turows siebter Roman ’Der Befehl’ tanzt aus der Reihe. Stewart Dubin (amerikanisierte Form von Dubinsky), frisch geschiedener Gerichtsreporter im Ruhestand mit russischen Wurzeln, stösst im Nachlass seines Vaters David auf sechzig Jahre alte Briefe und Dokumente, die sich mit dessen Erlebnissen als Militäranwalt im Zweiten Weltkriegs befassen. Er beschliesst, daraus ein Buch zu machen. Der letzte übrig gebliebene Zeitzeuge ist der geistig rege 96-jährige Jurist Barrington Leach, der damals David Dubin verteidigt hat. Es geht um den Fall des OSS-Agenten Robert Martin, des Hochverrats angeklagter Anführer einer höchst effizienten Résistence-Gruppe, dem Dubin in den Wirren der Ardennen-Offensive zur Flucht verhalf – und sich damit der Befehlsverweigerung schuldig machte. Erschwerend kam hinzu, dass Dubin sich kurz zuvor in Martins willens- und charakterstarke Kampfgefährtin (und frühere Freundin) Gita Lodz verliebt hatte. Erst ganz am Schluss seiner Recherchen begreift Stewart, weshalb sein Vater inständig hoffte, dass seine Nachkommen nie etwas von dieser Geschichte erfahren. Neben präzisen Beschreibungen der letzten Kriegsmonate im Nordwesten Europas mit “Szenen, die frisch der Hölle entsprungen schienen”, legt Turow das Hauptgewicht auf die Beziehung zwischen Gita und David, die bei dem zunächst etwas farblos und spiessig wirkenden jungen Mann einen Reifeprozess auslöste – er entwickelte sich rasch zu einer mutigen, verantwortungsvollen, moralisch integren Persönlichkeit, der es trotz all der grauenhaften Erlebnisse später gelingt, ein würdiges, ganz auf die Gegenwart ausgerichtetes Leben zu führen. Juristische Aspekte kommen in diesem Roman nur en passant zur Sprache.

Bibliografie:

Kindle County-Romane: ‘Presumed Innocent’ – ‘Aus Mangel an Beweisen’ (1987), ‘The Burdon of Proof’ – ‘Die Bürde der Wahrheit’ (1990), ‘Pleading Guilty’ So wahr mir Geld helfe’ (1993), ‘The Laws of Our Fathers’ – ‘Das Gesetz der Väter’ (1996), ‘Personal Injuries’ – ‘Die Gierigen und die Gerechten’ (1999), ‘Reversible Errors’ – ‘Das Gift der Gewissheit’ (2002), ‘Limitations’ – ‘Befangen’ (2006), ‘Innocent’ – ‘Der letzte Beweis’ (2010), ‘Identical’ – ‘Die Erben des Zeus’ (2013), ‘Testimony’ (2017), ‘The Last Trial’ (2020), ‘Suspect’ (2022);

Standalone: ‘Ordinary Heroes’ – ’Der Befehl’ (2005).