(1832-1873)
Emile Gaboriau kam in der Kleinstadt Saujon-en-Saintonge, Departement Charente-Maritime, zur Welt und wuchs unter ärmlichen Bedingungen in La Rochelle an der Atlantikküste auf. Nach abgebrochener Lehre in einem Notariatsbüro und drei Jahren Militärdienst bei der Kavallerie liess er sich in Paris nieder, um als Kolumnist des Wochenblatts ‘La Vérité’ und danach als Sekretär und Ghostwriter des damals sehr populären Romanciers, Zeitungsherausgebers und Feuilletonisten Paul Féval zu arbeiten. Für seine Schriften liess er sich in Gefängnissen, Leichenhallen und auf Polizeirevieren inspirieren. 1863, zwölf Jahre vor Sherlock Holmes’ Premiere, debütierte Gaboriau als Krimiautor: mit dem Bestseller ‘Die Affäre Lerouge’, Band eins der Monsieur Lecoq-Tetralogie, der zuerst in der Tageszeitung ’Le Pays’ und drei Jahre später in Buchform veröffentlicht wurde.
Der charismatische Normanne Lecoq (Vorname unbekannt) brach das Jurastudium nach dem frühen Tod seiner wohlhabenden Eltern ab und hielt sich mit kleinen Jobs über Wasser, bis er mit fünfundzwanzig seine detektivischen Talente entdeckte und nach langem hin und her beschloss, sie für eine Polizei- statt eine Gangsterlaufbahn einzusetzen. Vorbild für Lecoq war der frühreife (bereits als Teenager mehrmals inhaftierte) Dieb und legendäre Sicherheitsbeamte Eugène Francois Vidocq, der 1811 zum Chef der Pariser Sûreté ernannt wurde, danach noch eine Weile als Privatdetektiv arbeitete und 1857 starb.
Falsche Fährten und unerwartete Wendungen sind Gaboriaus grosszügig eingesetzte Mittel, um den Leser bei der Stange zu halten. Die Geschichten drehen sich zumeist um soziale Konflikte und politische Intrigen und wurden für ihre naturalistischen Milieuschilderungen sogar von Autoren wie Anton Tschechow gelobt. Sie beruhen offenbar auf realen Kriminalfällen, wobei der Autor die Gesetze der Wahrscheinlichkeit bisweilen arg strapaziert.
Der Hobbydetektiv Père Tabaret, genannt Tirauclair, ein intelligenter pensionierter Pfandleiher, steht im ersten Roman (‘Die Affäre Lerouge’) im Mittelpunkt, während sein Schützling Lecoq noch im Hintergrund verharrt. Masslos enttäuscht von den Justizbehörden, zieht Tirauclair sich danach als Ermittler zurück, um armen, unschuldigen Angeklagten aus der Patsche zu helfen, und für die Abschaffung der Todesstrafe zu kämpfen.
Den Durchbruch schafft der junge Flic gleich bei seinem ersten Streifengang zu Beginn des chronologisch zweiten Krimis ‘Monsieur Lecoq’, als es ihm fast mühelos gelingt, die Auflösung eines mehrfachen Mordfalls aus dem Hut zu zaubern – eine Aufgabe, an der sein Vorgesetzter Inspektor Gevrol kläglich gescheitert wäre. Dem scharfen Beobachter und Meister der Verkleidungskunst und logischen Deduktion stehen fortan alle Türen offen.
Liebhabern des klassischen Tüftelkrimis bietet ‘Monsieur Lecoq’ durchaus kurzweilige Lesestunden, während Gaboriaus andere Romane – dazu gehört auch das am höchsten eingestufte Einzelwerk ‘Der Strick um den Hals’ – aufgrund weitschweifiger und zähflüssiger Erzählweise einiges an Durchhaltevermögen erfordern.
Neben neun Krimis verfasste Gaboriau historische Studien und Biografien von berühmten Schauspielerinnen. Er starb 40-jährig in Paris und hinterliess seine langjährige Gefährtin Amélie Rogelet. In den folgenden Jahrzehnten wurde er durch Connan Doyle und andere, auch französische Autoren immer weiter an den Rand gedrängt. Um seine Bücher antiquarisch zu erwerben, muss man deshalb nicht allzu tief in die Tasche greifen.
Bibliografie:
Monsieur Lecoq-Serie: L’Affaire Lerouge’- ‘Die Witwe Lerouge (auch unter den Titeln ‘Die Affäre Lerouge’, ’Das Alibi’, ’Das Geheimnis der Witwe’, ’Die Bettelgräfin’ und ‘Der Fall Lerouge’, 1866), ‘Le crime d’Orcival’ – ’Das Verbrechen zu Orcival’ (auch unter dem Titel ’Dass Verbrechen von Orcival’, 1867), ‘Dossier 113’ – ‘Akte 113’ (auch unter den Titeln ‘Faszikel 113’, ’Aktenbündel Nr. 113’, ’Aktenstück No. 113’, ’Aktenfaszikel 113’, ’Geheim-Akte 113’ und ’Wer war der Dieb?’, 1867), ‘Les enquêtes de Monsieur Lecoq’ – ‘Monsieur Lecoq’ (auch unter den Titeln ’Herr Lecoq’ und ’Der Polizeispion’, 1869);
Einzelwerke: ‘Les esclaves de Paris’ – ’Moderne Sklaven’ (1868), ‘La vie infernale’ – ’Höllenleben’ (1870), ‚Le corde au cou‘ – ‘Der Strick um den Hals’ (auch unter den Titeln ’Der Strick am Hals’ und ‘Die tugendhafte Gräfin oder Der Strick um den Hals’, 1873), ‘L’Argent des autres’ – ’Anderer Leute Geld’ (1874), ‘Amours d’une empoisonneuse’ – ’Die Liebesabenteuer einer Giftmischerin’ (auch unter dem Titel ’Der Giftmischer’, 1881).
“Monsieur Lecoq” ist ein Erlebnis: einer der ersten Polizeiromane vom Erfinder des Polizeiromans – und zwar lesbar, zumindest in der Ausgabe des Verlags ‘Das Neue Berlin’: Alice Berger hat den Roman von 1869 auf Grundlage der frühesten Übersetzung in moderner Sprache “nacherzählt”, “behutsam gekürzt” und ein informatives Nachwort geschrieben.
Der Autor Emile Gaboriau kennt die Tricks, um Spannung zu erzeugen, da er auch Zeitungsromane für Zeilenhonorar verfasste. Sein “Lecoq” spielt an den verruchtesten Rändern von Paris sowie im Knast, und die Figuren kommen von ganz unten. Die Geschichte verstrickt sich in einem wilden Wettkampf von Rätseln und Gegenrätseln, Verschwörung und Gegenverschwörung, ein Meisterdetektiv mit Kenntnissen der höheren Gesellschaftsschichten tritt auf und vor dem Ende muss noch ein kurzer Gesellschaftsroman frei nach Balzac durchlaufen werden. Historischer Hintergrund ist der Kampf zwischen den aufständischen Bauern, die Anhänger Napoleons sind, und den Adligen, die während der Restauration – zur Zeit dieses Romans – ihr enteignetes Land wieder in Beschlag zu nehmen versuchten. Es ist klar, auf welcher Seite Gaboriau sein damaliges Massenpublikum erreichte. Georges Simenons’ Maigret wird später in einige Fußstapfen dieses Polizeiagenten Monsieur Lecoq treten. Auch international stieß der neu erfundene Polizeiroman auf großes Interesse in aller Welt, unter anderem bei Anton Tschechow und einem gewissen Arthur Conan Doyle…