(*1974)

Geboren in Houston, Texas, als Tochter von schwarzen Bürgerrechtlern, wuchs Attica Locke dort mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Temi auf, einer heute recht bekannten Filmschauspielerin. (Der Vorname Attica bezieht sich auf das New Yorker Gefängnis, in dem 1971 bei einem Aufstand 43 Menschen ums Leben kamen.) Sie studierte Film an der Northwestern University in Chicago und anschliessend an der von Robert Redford gegründeten Non-Profit-Organisation ‘Sundance Institute’. Nach Abschluss ihrer Ausbildung schrieb sie Skripts, unter anderem für die Fernsehserie ‘Empire’, die sie auch produzierte. 2012 debütierte sie als Romanautorin. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Anwalt Karl Fenske, und ihrer Tochter Clara in Los Angeles.

Auf Deutsch ist zuerst der vierte Krimi ‘Bluebird, Bluebird’ (benannt nach John Lee Hookers grandiosem Song) herausgekommen. Er spielt im fiktiven 178-Seelen-Kaff Lark am äussersten Rand von Osttexas, unmittelbar neben dem Highway 59, der den Süden mit dem Norden verbindet. Der schwarze, auf gemischtrassige Verbrechen spezialisierte Ranger Darren Mathews übernimmt die Ermittlungen, als zwei übel zugerichtete Mordopfer – der von seiner Frau getrennt lebende schwarze Anwalt Michael Wright aus Chicago, der in der Gegend aufgewachsen ist, und die junge, unglücklich verheiratete weisse Kellnerin Missy Dale – im selben Bayou aufgefunden werden: Die Handschrift der „Arischen Bruderschaft Texas“, deren Markenzeichen Lynchjustiz, Drogen- und Waffenhandel sind – doch die Reihenfolge der Verbrechen ist in diesem Fall falsch: der Schwarze kam zwei Tage vor der Weissen ums Leben. Als der Ranger gegen heftige Widerstände der Dorfmächtigen tiefer gräbt, tun sich ihm Abgründe auf. Der vielschichtige, 2018 mit dem Edgar für den besten Krimi ausgezeichnete Roman befasst sich auf kluge und subtile Weise mit fehlgeleiteter Liebe, Vorurteilen, verhängnisvollen Familienbanden und dem omnipräsenten Rassismus in einer Gegend, in der Trump fast 80% der Stimmen geholt hat.

Zwei Jahre nach ‚Bluebird, Bluebird‘ erschienen, befasst sich auch der zweite Darren Mathews-Roman mit Südstaaten-Rassismus in all seinen Facetten – er spielt in der Zeit zwischen dem Wahlsieg und der Amtsübernahme von President Trump. Im osttexanischen Marion County, in der fiktiven Ortschaft Hopetown am Lake Caddo, ist Levi King von einem Bootsausflug nicht zurückgekehrt – ein neunjähriges Bürschchen, das schon einiges auf dem Kerbholz hat. Levis Vater Bill, der seit sechs Jahren im Knast einsitzt, ein führendes Mitglied der Arischen Brudschaft von Texas (ABT), zieht auch jetzt noch viele Fäden, und das FBI wittert eine Chance, diesen Neonazi-Abschaum auszumerzen, bevor Trump ihn womöglich als Ehrengarde einsetzt – ein Deal mit Bill „Big Kill“ King könnte hierzu entscheidend sein. Der schwarze Texas Ranger Darren Mathews, eine zerrissene Persönlichkeit mit teils fragwürdiger Rechtsauffassung, übernimmt den kniffligen Auftrag, den Jungen aufzuspüren, um dessen Vater mild zu stimmen, und stösst auf ein Schlangennest. FBI-Agent Chris Heglund, Darrens weisser Kumpel aus Studienzeiten, Sheriff Quinn, der alte, schwarze Landbesitzer Leroy Page, der schmierige Immobilien-Spekulant Sandler Gaines und Levis grausame, aristokratische Grossmutter Rosemary sind involviert, während Darrens verwitwete Mutter Bell einmal mehr im Hintergrund ihr Unwesen treibt. ‚Heaven, My Home‘ ist wie sein Vorgänger ‚Bluebird, Bluebird‘ ein komplexer, kluger, in Grautönen gehaltener Roman, in dem Attica Locke ihr feines Händchen für ambivalente Figuren beweist und das eindrucksvolle Bild eines Landstrichs zeichnet, in dem Caddo-Indianer und Schwarze jahrzehntelang einträchtig nebeneinander lebten, bis ihn der „White Trash“ mit seinen Trailern in Besitz genommen und hasserfüllt vergiftet hat.

Lockes erster Krimi ‚Black Water ‚Rising‘ spielt 1981 in der texanischen Öl- und Hafenmetropole Houston. Der Anwalt Jay Porter, vor zehn Jahren als Aktivist der Black Panther Party nur knapp einer Haftstrafe entgangen, schlägt sich in seiner schäbigen Kanzlei mit kleinen Fällen herum, stets darum bemüht, kein Aufsehen zu erregen. Als er mit seiner schwangeren Frau Bernie im Bayou einen feierlichen Abend auf einem Mietboot verbringt, gerät sein Leben aus den Fugen: Sie hören Schreie, Schüsse fallen, ein Körper stürzt in den Fluss. Jay birgt eine weisse Frau, die im Wasser um ihr Leben ringt, und bringt sie auf den nächsten Polizeiposten. Wenig später erfährt er, dass ganz in der Nähe ein Mann ermordet wurde, worauf ihn seine Vergangenheit, seine Paranoia einholen: Er gerät ins Fadenkreuz der Polizei, des FBI und der allmächtigen Ölbarone, wird geschmiert, bedroht, verfolgt und überfallen, während in Houston ein durch seinen Schwiegervater Reverend Boykins organisierter Streik der für Lohngleichheit kämpfenden schwarzen Dockarbeiter bevorsteht. Jay soll vermitteln, führte er doch in seiner Studentenzeit eine Liebesbeziehung mit Cynthia Maddox, einer (damals) militanten weissen Kämpferin für Rassengleichheit, die sich inzwischen als Bürgermeisterin mit den Bossen arrangiert hat. Locke konstruiert aus diesem Stoff eine engagierte, vielschichtige Geschichte mit Sprüngen zwischen den späten 60er- und den frühen 80er-Jahren – und einem hin und her gerissenen Anwalt, der dem Verbrechen, dessen Zeuge er war, nach anfänglichem Zaudern auf den Grund geht.

Pleasantville, ein 1949 aus dem Boden gestampftes Viertel in Houston, Texas, wird hauptsächlich von betuchten Afroamerikanern bewohnt. Es ist Schauplatz von Lockes zweitem Krimi um den Rechtsanwalt Jay Porter – inzwischen Mitte vierzig und Vater von zwei schulpflichtigen Kindern, Ellie und Ben -, der seine Kanzlei nach dem ein Jahr zurückliegenden Krebstod seiner Frau Bernie etwas schleifen liess. Die Geschichte spielt in den letzten Wochen vor der Bürgermeister-Stichwahl, bei der sich mit der weissen republikanischen Staatsanwältin Sandy Wolcott und dem schwarzen demokratischen Ex-Polizeichef Axel Hathorne (Sohn von Sam, dem mächtigsten Mannes der Stadt) zwei Law-and-Order-Kandidaten gegenüberstehen, wobei Hathorne in letzter Zeit an Boden verloren hat. Die Stimmung im Quartier wird weiter aufgeheizt, als die junge Wahlkampfhelferin Alicia verschwindet, nachdem sie Anti-Hathorne-Flugblätter verteilt hat. Sie ist bereits das dritte Mädchen seit 1994, das in Pleasantville entführt wird, die beiden anderen wurden nach sechs Tagen ermordet aufgefunden, und dies geschieht auch dieses Mal. Zur allgemeinen Überraschung fällt der Verdacht auf Noel Hathorne, den Wahlkampfmanager seines Onkels. Unter Druck gesetzt von Sam, übernimmt Porter contre coeur die Verteidigung des Angeklagten – und sticht in ein Wespennest. Am Ende zeigt sich, dass die Morde nicht das geringste mit der Bürgermeisterwahl zu tun hatten, für den Wahlkampf jedoch auf äusserst widerwärtige Weise ausgeschlachtet worden sind.

‚Pleasantville‘ ist eine sorgfältig gestaltete, von komplexen Figuren getragene Mischung aus Mordgeschichte, Justiz- und Politroman, wobei Locke vor allem die grassierenden Wahlintrigen und -manipulationen und die damit einhergehende Zersetzung der Demokratie an den Pranger stellt. Darüber hinaus kommen gesellschaftliche und innerfamiliäre Konflikte und Porters alte Fälle zur Darstellung. Herrliche innere Monologe des Protagonisten runden die Lektüre ab. „Jay hat den dummen Gedanken, dass es in dieser chemieverseuchten Stadt völlig umsonst war, das Rauchen aufzugeben. Er könnte genau so gut eine Zigarette bei Sam schnorren, damit er sich nicht mehr quälen muss, und er könnte des Rest seines Lebens mit einem Freund, der ihm immer zur Hand ist, verbringen. Was ist schon dabei? Bernie hat nie geraucht und nie getrunken, sie hat überhaupt nie etwas Schädlicheres getan, als genau die Luft zu atmen, die gerade in Jays Lunge brennt.“

Bibliografie:

Jay Porter-Romane: ‘Black Water Rising’ – ‚Black Water Rising‘ (2009), ‘Pleasantville’ – ‚Pleasantville‘ (2015);

Highway 59-Romane: ‘Bluebird, Bluebird’ – ‘Bluebird, Bluebird’ (2017), ‚Heaven, My Home‘ – ‚Heaven, My home‘ (2019);

Einzelwerk: ‚The Cutting Season‘ (2012).