(*1957; schreibt auch als Paul Grün und Anatol Roth)
Geboren in Bad Langensalza, Thüringen, aufgewachsen in Saarbrücken, studierte Andreas Pflüger Theologie und Philosophie, blieb jedoch ohne Abschluss. 1982 begann er zu schreiben. 1987 gründete er mit Stefan Wermuth die ‘Comédie Berlin’. Seine Bibliografie enthält Theaterstücke, Hörspiele, 27 Drehbücher für den ‘Tatort’ und bisher sechs Romane. Darüber hinaus inszenierte er Dokumentarfilme wie ‘Fünf Jahre – Ein Leben’, ‘Jugend in Auschwitz’ und ‘Dein grosser Bruder’. Überstrahlt wird wird das Werk des “Recherche-Junkies” Pflüger durch den komplexen historischen Spannungsroman ‘Ritchie Girl’ aus dem Jahr 2021. Der Autor lebt seit langem in Berlin.
‘Ritchie Girl spielt 1945/46, in der unübersichtlichen Zeit, als der Nationalsozialismus nahtlos in den Kalten Krieg überging, und wird ergänzt durch Rückblenden auf die Zwanziger- und Dreissigerjahre. Die junge Berlinerin Paula Blum steht im Mittelpunkt. Nach dem frühen Tod ihrer deutschen Mutter verbrachte sie Kindheit und Jugendzeit als Einzelkind beim reichen jüdisch-amerikanischen Juristen und Geschäftsmann, in einer gediegenen Villa, wo die intellektuelle Elite ein- und ausging. Nach dem gewaltsamen Tod des Vaters ging sie 1937 in die USA, wo sie ein Geschichtsstudium abschloss und danach als Angehörige des 1942 gegründeten Womans Army Corps WAC im Camp Ritchie, Maryland, zur Dolmetscherin und Verhörspezialistin ausgebildet wurde, um wie viele deutsche Emigranten die Alliierten im Kampf gegen den Nazideutschland zu unterstützen; zuerst in den zertrümmerten norditalienischen Städten Genua und Mailand, anschliessend, während der Nürnberger Prozesse, im amerikanischen Verhörzentrum Camp King bei Frankfurt/Main. Dort trifft sie wieder auf den ausgefuchsten Verhörexperten Samuel Yaeger, den sie im Camp Ritchie kennen und schätzen gelernt hatte.
Bei ihrer Arbeit muss die scharfsinnige, durch und durch integre, aber auch entwurzelte, sich heimatlos fühlende Protagonistin die Erkenntnis verkraften, dass die Alliierten sich nicht nur der Verurteilung von Kriegsverbrechern widmen, sondern mindestens ebenso engagiert der “Umerziehung” von hohen Nazi-Tieren – Walter Rauff, Klaus Barbie, der spätere BND-Gründer Reinhard Gehlen und viele andere -, um diese dann als kalte Krieger anzuwerben – ein an Opportunismus kaum zu überbietendes Unterfangen, das, verschleiert durch den Decknamen “Operation Kronjuwelen”, von dem späteren CIA-Chef Allen Dulles geleitet wird; Agent Dulles, der kurz vor Kriegsende offenbar sogar einen ehrenhaften Frieden zwischen dem Geheimdienst OSS und der SS schliessen wollte.
Paulas prioritäre Aufgabe ist die Durchleuchtung des Wiener Juden Johann Kupfer, alias “Sieben”, der als selbst ernannter “grösster Spion des Zweiten Weltkriegs” (ist Kupfer überhaupt “Sieben”? und für wen hat er spioniert?) dem amerikanischen Militärgeheimdienst CIC die volle Unterstützung im Kampf gegen die Kommunisten anbietet, um seine Haut zu retten. Bedeutende Rollen in der akribisch recherchierten Geschichte, in der auch real existierende Zeitzeugen Erwähnung finden, spielen Paulas als verschollenbemeldeter Liebhaber Offizier Georg Melzer und ihre enge jüdische Freundin Judith, die sie 1937 in Deutschland ihrem Schicksal überlassen hat. Auch die schamlosen Machenschaften von Paulas Vater in den frühen Dreissigern, als er mit den Nazibonzen verkehrte und sich durch Geschäfte mit der IG Farben masslos bereicherte, sowie die braune Vergangenheit des BND gehören zum Thema, das der Autor wie folgt auf den Punkt bringt: “Zynismus und Skrupellosigkeit, die ewigen siamesischen Zwillunge”. ‘Ritchie Girl’ ist ein wuchtiger, verstörender, stilistisch brillanter, von einer humanistischen Gesinnung durchdrungener Roman mit unvergesslichen Figuren.
Jenny Aaron, Tochter einer GSG-9-Legende (Jörg Aaron war 1977 Kommandant in Mogadischu), ist mutig, zäh, blitzgescheit und ausgerüstet mit einem unbändigen Überlebenswillen und einem fotografischen Gedächtnis. “Aaron ist grösser als das Leben. Sie wird mit dem Unmöglichen konfrontiert und muss es bewältigen, um nicht zerschmettert zu werden.” Als ausgezeichnete Schützin und Meisterin der asiatischen Kampfkünste stand sie im Dienst einer für “nasse” Aufträge zuständigen namenlosen Berliner Spezialabteilung, bis sie und ihr Partner Niko Quist, mit dem sie ein Verhältnis hatte, vor fünf Jahren in Barcelona in eine Falle gerieten, sie ihr Augenlicht und einen Teil ihres Gedächtnisses verlor – und ihren schwer verletzten Freund im Stich liess.
Nach mehrjährigem knochenhartem Training kehrt die psychisch angeknackste – immer noch unter Schuldgefühlen leidende – Protagonistin im ersten Band ‘Endgültig’ mit geschärften verbliebenen Sinnen zurück, um für eine äusserst schlagkräftige Elitetruppe des BKA europaweit gegen Organisierte Kriminalität und Terrorismus zu kämpfen – jetzt nicht mehr als “Tötungsmaschine”, sondern als Fallanalytikerin und Verhörspezialistin, begleitet durch den Präzisionsschützen und dreifachen Familienvater Ulf Pavlik, der wie ein grosser Bruder zu ihr schaut, und verfolgt von ihrem Dämon Ludger Holm, der damals am Ursprung des Barcelona-Fiaskos stand – und dem sie jetzt einen gnadenlosen Zweikampf liefert.
Auf den ersten Seiten des zweiten Teils ‘Niemals’ blickt Pflüger kurz zurück auf Jenny Aarons erste Begegnung mit dem “Broker”, dem gefährlichsten Schurken der Welt, dem Mann, der wahrscheinlich den Tod ihres Vaters zu verantworten hat. Trotz ihres Handicaps ist Aaron ist jetzt wieder da, wo sie hingehört: bei der namenlosen – locker dem Innenministerium unterstellten – Berliner Spezialabteilung, als Kontrahentin des “Brokers”, der mit Hilfe von Terroranschlägen die Börse auf den Kopf stellt und damit jeweils einen riesigen Haufen Geld einstreicht. Die Spuren führen Aaron und Pavlik nach Marrakesch, wo zudem in einer Bank zwei Milliarden Euro auf sie warten – Ludger Holms “Abschiedsgeschenk”.
Im dritten Band, ‘Geblendet’, legt Pflüger den Schwerpunkt zunächst auf Aarons Kontakte mit dem renommierten Augenarzt Professor Reimer, dem es mit einem neuartigen Verfahren wiederholt gelungen ist, blinden Menschen ihr Augenlicht zurückzugeben; sowie auf die Machenschaften des kurrupten, machtgeilen, über Leichen gehenden Innenministers Svoboda – der obersten Instanz der “Abteilung”. Als Svoboda den Bogen überspannt und die seiner Kontrolle, wie er findet, allzu stark entglittene Sondertruppe mit einer Gasbombe fast vollständig auslöscht, bricht Aaron die Behandlung ab, um gemeinsam mit den sechs Überlebenden, unter dem ominösen Begriff “die sieben Samurai”, den Tod ihrer Kollegen zu rächen – und dabei auf eine fast übermächtige Opponentin trifft: ihr Spiegelbild Malin, ein Racheengel mit fast identischer Lebensgeschichte wie sie selbst.
Komplexe Plots, messerscharfe Dialoge, zahlreiche Rückblenden und geschickte Wechsel zwischen gewalttriefenden Szenen, ruhig-besinnlichen Passagen und Verweisen auf die Philosophie der Samurai und die Kampfkunst Bushido: Pflügers chronologisch zu lesende Highspeed-Thriller-Trilogie setzt Massstäbe in der Spannungsliteratur. Nicht zuletzt aufgrund des unvergesslichen Figurenensembles, namentlich (neben Aaron, Pavlik, und den Bösewichtern) Pavliks Frau Sandra, mit der Jenny Aaron eine tiefe Freundschaft verbindet, die kurdische Türkin Inan Demirci als neue Leiterin der “Abteilung”, ihr tiefgründiger, auch jetzt noch Fäden ziehender Vorgänger Lissek, Demircis integrer Verbündeter und gelegentlicher Bettgefährte Lennart Palmer als Präsident des BKA, Demircis (und zuvor bereits Lisseks) Assistentin “Helmchen” als gute Seele des verschworenen Teams, sowie Aarons Lehrmeister Kisho.
Bibliografie:
Jenny Aaron-Trilogie (auch in Blindenschrift und als Hörbücher erschienen): ‘Endgültig’ (2016), ‘Niemals’ (2017), ‘Geblendet’ (2019);
Einzelwerke: ‘Operation Rubikon’ (2004), ‘Ritchie Girl’ (2021), ‘Wie Sterben geht’ (2023).