(Pseudonym für William Rodney Whitaker, 1931-2005; schrieb vermutlich auch als Benat Le Cagot, Jean-Paul Morin, Edoard Moran und Nicholas Seare)
Trevanians bürgerlicher Name, über den man jahrelang gerätselt hat (die Spekulationen reichten von Robert Ludlum und Ian Fleming bis Tom Wolfe und Thomas Pynchon), und der erst 1998 gelüftet werden konnte, lautet William Rodney Whitaker. Die Angaben zu seinem Lebenslauf sind mit Vorsicht zu geniessen.
William Whitaker kam in Granville, New York State, zur Welt und wuchs in bescheidenen Verhältnissen in der Nähe von Montréal auf, später in Albany, New York State. In der Zeit des Koreakrieges diente er vier Jahre bei der US-Navy. Es folgte ein Aufenthalt in Seattle, wo er an der University of Washington Drama studierte (Bachelor 1959, Master 1960). Während des Studiums verfasste er den Dreiakter ‘Eve of the Bursting’. In diese Zeit fiel auch seine Heirat mit der Kunstmalerin Diane Brandon. 1966 wurde er in den Fächern Kommunikationswissenschaften und Film an der Northwestern University in Evanston, Illinois, promoviert.
Von 1963 bis 1966 lehrte Whitaker Drama am lutheranischen Dana College in Blair, Nebraska, danach nahm er eine ausserordentliche Professur an der Abteilung Film der University of Texas in Austin an. Später unterrichtete er einige Semester an der Buknell University in Lewisburg, Pennsylvania. Angewidert von der amerikanischen Politik, Kultur und konsumorientierten Lebensweise, verliess er seine Heimat Ende der 70er-Jahre und liess sich mit seiner Familie in einem kleinen Dorf auf der französischen Seite der Pyrenäen nieder.
Unter seinem bekanntesten Pseudonym Trevanian begann Whitaker zu Beginn der 70er-Jahre seine schriftstellerische Laufbahn mit den beiden das Genre auf die Spitze treibenden Spionageromanen ‘Im Auftrag des Drachen’ (unter dem Titel ‘The Eiger Sanction’ von und mit Clint Eastwood verfilmt) und ‘Der Experte’ (die Geschichte eines genialen Kunstraubs, der später von Gangstern in Italien haargenau kopiert wurde). Im Mittelpunkt steht jeweils Dr. Jonathan Hemlock, ein auf Long Island in einer renovierten gotischen Kirche lebender Kunstgeschichts-Professor, Fachbuchautor, Sammler wertvoller (auf illegalem Weg erworbener) Gemälde, raffinierter Verführer schöner Frauen und international bekannter Bergsteiger, der von der fiktiven, durch den monströsen Albino Yurasis Dragon geleiteten Geheimorganisation CII gelegentlich mit gut dotierten “nassen Arbeiten” und “Strafaktionen” betraut wird.
Im Jahr 1976 liess Trevanian den im “Scherbenviertel” Main der damaligen Olympiastadt Montreal angesiedelten Police Procedural ‘Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit’ folgen, mit Claude Lapointe, einem erfahrenen, sozial engagierten Cop und glänzenden Menschenkenner als Hauptfigur. Der internationale Durchbruch gelang Trevanian 1979 mit ‘Shibumi’, und auch das 1914 spielende Melodrama ‘Katya’ verkaufte sich vier Jahre später gut.
‘Shibumi’ ist die Geschichte des höchst bezahlten Auftragskillers der Welt, Nikolai Hel, der allerdings erst in der Hälfte des Buches erstmals in Natura auftritt. Geboren Anfang der 20er-Jahre in einem durch Nachkriegswirren zerrütteten Shanghai als Spross einer russischen Aristokratin und eines mysteriösen deutschen Vaters, der kurz nach der Geburt seines Sohnes das Weite sucht, wächst er nach dem Tod der Mutter in einem kultivierten und angesehenen japanischen Umfeld auf – und erlernt dort nicht nur das Strategiespiel Go, sondern auch die Kunst des unauffälligen Tötens mit Hilfe alltäglicher Gegenstände, etwa eines Bleistifts, eines Kamms oder eines Trinkstrohhalms. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wird der staatenlose Protagonist der Spionage für die Sowjets bezichtigt und von den Amerikanern drei Jahre in Isolationshaft gesteckt, bis ihn die CIA als Hitman rekrutiert – sein erster Auftrag führt ihn nach Peking. In den folgenden zwei Dezennien steht Hel im Sold von Regierungen und Geheimdiensten fast jeder Couleur – und streicht pro Auftrag 250’000 Dollar ein.
Dreissig Jahre später (zu Beginn von ‘Shibumi’) lebt Nikolai Hel mit seiner japanischen Geliebten Hana und seinem engsten Freund, dem ehemaligen ETA-Mann Benat Le Cagot, in einem Schlösschen im französischen Baskenland und geniesst den Ruhestand, indem er sich seinem wunderschönen japanischen Steingarten, der Höhlenforschung, erfüllenden sexuellen Begegnungen mit Hana und der Suche nach einem tiefen inneren Frieden widmet. Doch nach einem gründlich missratenen Attentat in Rom, das einer seiner einstigen Mitstreiter geplant und durchgeführt hat, wird Hel von seiner Vergangenheit eingeholt. Mehr sei hier nicht verraten über die Handlung dieses (in sechs den Phasen eines Go-Spiels entsprechenden Hauptkapitel unterteilten, fast ganz ohne Actionszenen auskommenden) Spionageromans, den zwei Krimiexperten höchst gegensätzlich beurteilt haben – Martin Compart bezeichnete ‘Shibumi’ als atemberaubenden und komplexen Jahrhundertthriller, Thomas Wörtche, nicht nachvollziehbar, als ein Beispiel für ungünstig gebaute, streckenweise langweilige, unfreiwillig komische Trivialliteratur. Sei’s drum, ‘Shibumi’ lässt sich vorzüglich als stilistisch brillante, höchst vergnügliche, das Genre auf die Schippe nehmende Agentengeschichte geniessen, in der die Amerikaner ihr Fett abbekommen, dass es eine Art hat. (Im Jahr 2011 veröffentlichte Don Winslow mit ‘Satori’ eine Art Prequel zu ‘Shibumi’.)
Neben seinen Spannungsromanen verfasste der medienscheue Autor Sachbücher zu den Themen Theologie, Recht, Ästhetik und Film, zwei ironische Mittelalterromane, den Erzählband ‘Hot Night in the City’ sowie den autobiografisch geprägten Roman ‘The Crazyladies of Pearl Street’, sein letztes, 2005 publiziertes Werk.
Whitaker erlag 74-jährig an seinem letzten Wohnsitz im englischen West Country einer langwierigen Lungenkrankheit und hinterliess seine Frau Diane, seine Söhne Lance und Christian und seine Töchter Alexandra (sie ist ebenfalls Schriftstellerin und betreut die Homepage ihres Vaters) und Tomasin.
Bibliografie:
Jonathan Hemlock-Romane: ‘The Eiger Sanction’ – ‘Im Auftrag des Drachen’ (1972), ‘The Loo Sanction’ – ‘Der Experte’ (1973);
Einzelwerke: ‘The Main’ – ‘Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit’ (1976), ‘Shibumi’ – ‘Shibumi’ (auch unter dem Titel ‘Shibumi oder Der leise Tod’, 1979), ‘The Summer of Katya’ – ‘Katya’ (1983), ‘Incident at Twenty-Mile’ (1998).
Wer die literarische Qualität von SHIBUMI nicht erkennt, der erkennt die literarische Qualität eines Raymond Chandlers nur durch die vorherige Lektüre von Sekundärliteratur.
Gehe völlig mit dir einig Martin.