(*1942)
Abigail Padgett kam in der Kleinstadt Vincennnes, Indiana, als Tochter einer Lehrerin und eines im Baugewerbe tätigen Vaters zur Welt und wuchs auch dort auf. Nach Abschluss des Englischstudiums an der Indiana University in Bloomington 1964 unterrichtete sie Englisch an einer High School in St. Louis. 1969 machte sie einen Master-Abschluss in Bildungs- und Berufsberatung an der University of Missouri. Anschliessend arbeitete sie unter anderem als Fachfrau für berufliche Wiedereingliederung und bei der American Civil Liberties Union of Texas. Es folgten zwei Jahre als Gerichtsermittlerin für den Kinderschutz in San Diego, ehe sie sich 1988 aufs Schreiben verlegte.
Barbara „Bo“ Bradley, geschieden, manisch-depressiv und stets von ihren Gefühlen geleitet, ist Padgetts bedeutendste Krimifigur. Liiert mit dem engagierten Kinderarzt Andrew LaMarche und eng befreundet mit ihrer Arbeitskollegin Estrella, setzt sie sich als Ermittlerin des Jugendamts San Diego leidenschaftlich, mutig und unbürokratisch für ihre misshandelten, im Stich gelassenen Schützlinge ein. Für den kleinen Jungen Weppo, der halbtot an eine Matratze gefesselt in einem Indianerreservat aufgefunden wird, scheinbar mit krankem Hirn, in Wirklichkeit hochintelligent, aber taub – und der offenbar aus dem Weg geräumt werden soll (‚Der schweigsame Zeuge‘). Für die gepeinigte dreijährige Samantha, die ihre schweren Verletzungen nicht überlebt, worauf Bo den Täter ins Visier nimmt (‚Bo Bradley und das Strohmädchen‘). Oder für den sechsjährigen Moonbird, dessen liebenswerter, schizophrener Vater zu Beginn der Erzählung erschossen wir, und dessen Leben nun ebenfalls bedroht ist (‚Bo Bradley und der Indianerjunge‘). In dem düsteren, unter die Haut gehenden Fünfteiler überzeugt die Autorin mit dichter Erzählweise und einfühlsamer Schilderung ihrer Figuren.
Ganz anders die beiden Romane um die lesbische, feministische Sozialpädagogin und Hobbydetektivin Blue McCarron – weitschweifig erzählte und durch unzählige populärpsychologische Exkurse verwässerte Geschichten, die auf Padgetts Homepage nicht aufgeführt sind.
Padgetts mit dem Mathematiker Robert Dolgin im Jahr 1965 geschlossene Ehe, der ein Sohn entstammt, wurde nach siebzehn Jahren geschieden. Die Autorin lebt in San Diego, verbringt jedoch auch viel Zeit an der amerikanischen Ostküste und in Frankreich. Neben dem Schreiben engagiert sie sich für Umweltschutz und soziale Minderheiten.
Bibliografie:
Bo Bradley-Serie: ‚Child of Silence‘ – ‚Der schweigsame Zeuge‘ (1993), ‚Strawgirl‘ – ‚Bo Bradley und das Strohmädchen‘ (1994), ‚Turtle Baby‘ – ‚Bo Bradley und das Schattenkind‘ (1995), ‚Moonbird Boy‘ – ‚Bo Bradley und der Indianerjunge‘ (1996), ‚The Dollmaker’s Daughters‘ – ‚Die Tochter des Puppenmachers’ (1997);
Blue McCarron-Romane: ‚Blue‘ – ‚Kalt ist der Tod‘ (1998), ‚The Last Blue Plate Special‘ – ‚Blues Dämonen‘ (auch unter dem Titel ‚Ein heisser Fall‘, 2001);
Einzelwerke: ‚Bone Blind‘ (2011), ‚The Paper Doll Museum‘ (2015), ‚An Unremembered Grave‘ (2015).
Ich frage mich, warum sonst niemand drauf kommt, anstelle des Privatdetektivs eine ziemlich realistische und fachkundige Straßensozialarbeiterin zur Hauptperson eines Krimis zu machen.
Vielleicht liegt das daran, dass sich der Krimi dann mit dem Märchen mischen muss, um eine lesbare Geschichte hinzubekommen? Dass dies wirklich so sein muss, wäre aber noch zu beweisen!
In diesem Fall jedenfalls ist es der Autorin Abigail Padgett gelungen: Diese interessante Mischung aus Krimi und Märchen ist ‘hard boiled’, aber lebt einen anderen Realismus, als er in Kriminalromanen üblich ist. Auch die Figur entspricht gar nicht den in Kriminalromanen gewohnten: diese Ermittlerin zwischen Justiz-, Sozialbehörden und Krankenhaus, die sich für mißbrauchte, ausgesetzte und verlassene Kinder engagiert und außerdem selber nicht alle Tassen ganz vollständig im Schrank hat und als ausgesprochen Therapieerfahrene mit ihren manischen/euphorischen Phasen leben muss.
Also ein ausgesprochen harter Stoff!
Bevölkert von Revolverhelden, Ex-Marines, Reichen, Drogensüchtigen und Gescheiterten, einer korrupten egozentrischen Politikerin, einem Cajun sprechenden Chefarzt, einer investigativen Reporterin auf Verfolgungsjagd, einem Kinderpfleger des Krankenhauses “für spezielle Fälle” …
Das Märchen spielt an den Randzonen der Südstaaten-Grenzstadt, Wüstenstadt und Großstadt San Diego. Bevor der “schweigsame Zeuge” – nach 180 Seiten spannungsgeladener Action – in einen zu sehr märchenhaften Schluß abgleiten könnte, schafft er den Bogen und kommt zu einem glücklichen Ende. In einer der letzten Szenen sind der gerettete Junge und die Ermittlerin kurz in einem echten Pow-wow der überlebenden Indianer zu sehen – ein Ritual, in dem sie ihre psychischen Verletzungen ausheilen.