(1940-1982)
Edward “Ted” Lewis kam in Manchester zur Welt. Seinen Vater sah er erstmals mit sechs nach dessen Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg. Er wuchs als Einzelkind in Barton-On-Humber, Lincolnshire, auf, bekam jedoch von seinen kleinbürgerlichen Eltern – der Vater war in der Geschäftsleitung eines Steinbruchs, die Mutter betrieb einen Süsswarenladen – nie die ersehnte Anerkennung und fing bereits mit 14 zu trinken an. Gegen den Willen des Vaters ging er für vier Jahre an die Kunsthochschule von Hull School of Art and Design, um sich zum Illustrator auszubilden. In seiner Freizeit spielte er Klavier in einer Jazzband und machte mit seinen Kumpeln die Pubs unsicher.
Nach seiner Heirat mit der Sekretärin Jo White im Jahr 1966 liess er sich in einem Haus in Wicken Bonhunt, Essex, nieder. Er illustrierte Kinderbücher und Zeichentrickfilme, arbeitete kurze Zeit in einer Londoner Werbeagentur und war an der Animation für den Beatles-Film ‘The Yellow Submarine’ beteiligt. 1965 veröffentlichte er den misslungenen – autobiografisch geprägten – Liebesroman ‘All the Way Home and All the Night Through’.
Inspiriert von den amerikanischen Hard-boiled-Autoren und den Noir-Filmen der 40er- und 50er-Jahre, brach Ted Lewis 1970 mit der britischen Tradition des Häkel- und Teestubenkrimis, indem er in seinen schwarzen, ultrabrutalen Romanen den Mord auf die Strasse zurückholte: Mit der epochalen Trilogie um Jack Carter, dem rabiaten Troubleshooter eines von den (den Kray-Zwillingen nachgezeichneten) Brüdern Gerald und Les Fletcher angeführten – auf Pornofilme, Prostitution und Glücksspiel spezialisierten – Londoner Gangstersyndikats, der mit Geralds Frau Audrey heimlich eine sexuelle Beziehung unterhält – und sich irgendwann mit ihr und dem Fletcher-Vermögen ins Ausland absetzen will.
‘Jack’s Return Home’ (‘Jack rechnet ab’), herausgekommen als erster, chronologisch jedoch letzter Teil der Trilogie, wurde 2002 in überarbeiteter deutscher Übersetzung von Martin Compart herausgegeben und mit einem umfassenden, instruktiven Anhang versehen. Jack Carter, ein intelligenter, gnadenlos zynischer Mann ohne Moral und Skrupel, kehrt in seine düstere, von organisierter Kriminalität beherrschte Heimatstadt Scunthorpe im Norden Englands zurück, um den gewaltsamen – auf geradezu stümperhafte Art als Unfall getarnten – Tod seines sanftmütigen Bruders Frank aufzuklären und dessen 15-jährige Tochter Doreen, die vielleicht seine eigene ist, aus dem Porno-Dreck zu ziehen. Nach der äusserst gewalttätigen Rachetour beisst Jack Carter ins Gras, doch Lewis hat ihn dann aus finanzieller Not für zwei Prequels reaktiviert.
‘Jack Carters Gesetz’: Schauplatz London – Jack Carters einziges Heimspiel. Zentrales Thema: Der Singvogel. Jimmy Swann, frisch gebackener Polizeispitzel, ist der Schweinehund, der die Organisation der Fletcher-Brüder endgültig auffliegen lassen könnte, doch er ist untergetaucht. Carter hält dagegen, indem er sich Charlie schnappt, den Bruder von Jimmys Frau Jean, die allerdings ebenfalls unauffindbar ist, sodass er sich nun hinter Mrs. Abbott klemmt, die Mutter der beiden Früchtchen. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Uhr – Carter hat höchstens 24 Stunden Zeit, um Jimmy aus dem Verkehr zu ziehen, andernfalls wird er die nächsten zwanzig Jahre im Bau verbringen.T
In ‘Jack Carters Wut’ wird Carter wird von Gerald und Les Fletcher für sein nachhaltiges Troubleshooting mit einem zweiwöchigen Urlaub in ihrer Villa auf Mallorca «belohnt». Nach einer traumatischen Reise – Carter sass zuvor noch nie in einem Flugzeug – steht auch der Aufenthalt auf der Insel von Beginn an unter einem schlechten Stern. In der Villa erwartet ihn nicht nur der vertrottelte Hausmeister Wally, sondern auch ein unbekannter – paranoider und schiesswütiger – italo-amerikanischer Mafioso namens Joe D’Antoni, den Carter beschützen oder allenfalls liquidieren soll. Und dann taucht ausser Carters Bettgefährtin Audrey Fletcher unerwartet auch Wallys 17-jährige sexwütige Tochter Tina auf, und Carter hasst bekanntlich nichts so sehr wie Überraschungen. Wurde er von den Dreckskerlen Gerald und Les geleimt? Carters Wut auf die hinterfotzigen, sich stets masslos überschätzenden Brüder wächst von Tag zu Tag, bis zum blutigen Finale, in dem er sich – im Gegensatz zu D’Antoni, Wally und den eben erst dazugestossenen Syndikatskillern Peter der Holländer und Con McCarty – seltsam teilnahmslos verhält. ‘Jack Carters Wut’, grossartig übersetzt durch Jürgen Bürger, lebt weniger von den sparsam eingestreuten Actionszenen, als von sexuellen Eskapaden, Slapstick-Einlagen und endlosen, herrlich-abstrusen Wortwechseln und Selbstgesprächen.
Zwei Jahre vor seinem Tod veröffentlichte Ted Lewis sein Meisterwerk, den atemberaubenden Noir-Thriller ‘Schwere Körperverletzung’ (im Original: ‘GBH’, die Abkürzung für Grievous Bodily Harm). Erzählt wird die Geschichte abwechslungsweise in der Gegenwart und der einige Monate zurückliegenden Vergangenheit, als der psychopathische Gangster George Fowler die Londoner Pornobranche beherrschte und die stinkreichen Kunden mit snuff films versorgte. An der Seite seiner schönen und intelligenten, jedoch perversen Lebensgefährtin Jean führt er in seinem wunderbaren Penthouse ein sorgenfreies Leben in Saus und Braus, bis seine Organisation offenbar von innen torpediert wird. Fowler traut keinem mehr, nimmt jeden in die Zange, von dem er denkt, er sei ein Verräter, foltert und mordet, seine Paranoia wächst, er beginnt zu saufen, das Verhängnis ist nicht mehr aufzuhalten. Später, in der Gegenwart, ist er er in einem zum Hochsicherheitstrakt ausgebauten Bungalow an der nordenglischen Küste untergetaucht, nennt sich Roy Carson – und versucht verzweifelt, seine Vergangenheit zu vergessen.
Ted Lewis, zusammen mit Derek Raymond der einflussreichste Vertreter des “Brit Noir”, steuerte auch einige Drehbücher für die berühmte britische Fernsehkrimiserie ‘Z Cars’ bei. Er starb im Alter von 42 Jahren an den Folgen seines exzessiven Lebensstils und hinterliess zwei Töchter, Nancy und Sally, die seiner Mitte der 70er-Jahre geschiedenen Ehe mit Jo entsprungen waren. Dass Ted Lewis nicht ganz in Vergessenheit geraten ist, haben wir vor allem der grossartigen Verfilmung von ‘Jack’s Return Home’ zu verdanken. (Michael Caine spielte die Hauptrolle, Mike Hodges führte Regie). Um das Remake mit Sylvester Stallone als Carter sollte man hingegen einen grossen Bogen machen.
Bibliografie:
Jack Carter-Trilogie: ‘Jack’s Return Home’ (auch unter dem Titel ‘Get Carter’) – ‘Jack rechnet ab’ (auch unter dem Titel ‘Jack Carters Heimkehr’, 1970), ‘Jack Carter’s Law’ – ‘Jack Carters Gesetz’ (1974), ‘Jack Carter and the Mafia Pigeon’ – ‘Jack Carters Wut’ (1977);
Einzelwerke: ‘Plender’ (1971), ‘Billy Rags’ (1973), ‘The Rabbit’ (1976), ‘Boldt’ (1976), ‘GBH’ – ‘Schwere Körperverletzung’ (1980).
Mit “Schwere Körperverletzung” habe ich ein Problem: Die Do it yourself-Folter im Privathaus mit Elektrokabel – dass dabei die Sicherung nicht herausfliegt?! – wird ohne Distanz beschrieben (z. B. bereits auf Seite 6 der Übersetzung: 1990 Berlin, Nowatzki-Verlag).
Für mich liest sich das Buch eher wie ein Bericht als wie eine literarisch gebrochene und reflektierte Erzählung. Der Bericht soll, da er – als “echter Härtling”, wie wir als Jugendliche sagten – keinerlei Gefühle zeigt, vielleicht einen Sog erzeugen? Aber bei mir wirkt das nicht. Dazu kenne ich Folter zu genau.
Wenn ich wirklich krassen Realismus lesen will, dann greife ich zu den Berichten von Amnesty International. Dort wissen die Folteropfer, worüber sie sprechen. Ich habe selber welche kennengelernt.