(*1976)

Geboren als Sohn einer Spanierin und eines Mexikaners in Guadalajara (“Perle des Westens”), der zweitgrössten mexikanischen Stadt, wuchs Antonio Ortuno in einem Viertel auf, das an einer der grossen Bahnlinien des Landes lag, sodass er schon als Kind mit dem Elend der Migranten konfrontiert wurde – ein Thema, das ihn nie wieder loslassen sollte. Er wurde Journalist und Redakteur bei der Zeitumg ‘Milenio’ und veröffentlichte 2006 seinen ersten Roman ‘El buscador de cabezas’, der in Mexiko als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet wurde. Der vierte Roman, ‘La filia india’ aus dem Jahr 2013, ist sein erstes Werk, das auf Deutsch erschienen ist. Ortunos Bibliografie enthält sieben Romane, vier Erzählbände und eine Reihe von Artikeln für mexikanische Kulturmagazine. Der Autor lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in einem zentral gelegenen Quartier von Guadalajara. In einem 2017 geführten Interview erläuterte er in prägnanten Worten die Hauptprobleme seines Landes: Machoismus, alltägliche Gewalt, ökonomische Krisen, Organisierte Kriminalität, subtiler Rassismus gegenüber den Zentralamerikanern, Korruption, das Nicht-Funktionieren der Demokratie. Mit all diesen Übeln befasst sich Ortuno in seiner Prosa auf sarkastische, schwarzhumorige, aber auch desillusionierte Weise.

Drei seiner Romane sind schön aufgemacht und gut übersetzt im Verlag Antje Kunstmann herausgekommen, darunter ‘Madrid, Mexiko’, kein Krimi, sondern eine blutige, sich über mehrere Generationen erstreckende Familiengeschichte.

‘Die Verbrannten’, angesiedelt im fiktiven südwestmexikanischen Kaff Santa Rita, beginnt mit einer grauenhaften Katastrophe: Eine voll besetzte staatliche Notunterkunft für zentralamerikanische Flüchtlinge, die sich auf dem Weg nach den USA befinden, wird von Unbekannten abgefackelt, Dutzende Männer, Frauen, Kinder sterben in den Flammen, während das gesamte Personal an einer Party teilnimmt. Irma, genannt La Negra, eine mutige Sozialarbeiterin und allein erziehende Mutter einer kleinen Tochter, soll im Auftrag des Nationalkomitees für Migration dem Anschlag auf den Grund gehen, auch wenn sich im Grunde kein Mensch auch nur im Geringsten dafür interessiert, wer die Tragödie zu verantworten hat, und die Zeugen aus Angst vor den Schlepperbanden den Mund halten – das Leben geht weiter, als ob nichts geschehen wäre. Ortuno erzählt die vielstimmige Geschichte in einem derben, ungeschminkten Stil.

‘Die Verschwundenen’ spielt in Ortunos Heimatstadt Guadalajara, dem Zentrum für Geldwäsche, die seit Jahren von einem mexikanischen Drogenkartell beherrscht wird. An der Spitze des Syndikats steht Don Carlos Flores, dessen Schwiegersohn und Buchhalter Aurelio Blanco, genannt Yeyo, nach fünfzehn Jahren Haft zu Beginn der Erzählung auf freien Fuss kommt. Seine Frau Alicia liess sich bald von ihm, ihrem “Hündchen”, scheiden, und die gemeinsame Tochter wird er wohl nie mehr sehen. Sein Anwalt Pina empfängt ihn mit den Worten “die Flores werden dich kaltmachen”. Pinas Partnerin Estrella schenkt ihm einen schnellen Orgasmus. Und Blanco besorgt sich eine Knarre. Nach dieser knappen Einleitung wechselt Ortuno zwischen der Zeit vor, während und nach Yeyos Gefängnisaufenthalt. Don Carlos, die “Schlange”, hatte sich seinerzeit Pachtland mit schäbigen Häusern am nördlichen Rand der Stadt angeeignet, um darauf eine luxuriöse Residenz, die “Olinka”, zu bauen. Er bedrohte und schmierte die Menschen, die da lebten. Wer sich weigerte, wegzuziehen, verschwand. Abgeknallt und verscharrt. Als Flores’ kriminelle Machenschaften ans Licht kamen, ging Yeyo, unsicher und naiv wie er war, für ihn in den Knast. Gegen eine grosszügige Entschädiging; Rückkehr zur Familie nach spätesten zwei Jahren garantiert. Leere Versprechen, denn das Projekt ging schnell den Bach runter: Investoren (sprich: Geldwäscher) wurden eingelocht oder sprangen ab, die meisten Villen blieben leer, die Siedlung zerfiel. Kurz nach Yeyos Freilassung kommt es zu einem dramatischen, selbstzerstörerischen Auftritt von Alicias Bettgefährten Jacobo, der sich die Olinka mit allen Mitteln unter den Nagel reissen will, ein Auftritt, der durch einen Schuss beedet wird. Und das Ende der kaputten Familie Flores bedeutet. Olinka ist sauber, Yeyo im Glück, doch “Guadalajara ist immer noch dieselbe Jauchegrube.”

Bibliografie:

”El buscador de cabezas’ (2006), ‘Recursos humanos’ (2007), ‘Anima’ (2011), ‘La fila India’ – ‘Die Verbrannten’ (2013), ‘Mejico’ – ‘Madrid, Mexiko’ (2015), ‘El rastro’ (2016), ‘Olinka’ – ‘Die Verschwundenen’ (2019).