(Pseudonym für Yves Delville, 1920-2007; schrieb auch als Yves Dieryck und Edo Ryck)

Yves Delville war einer der bedeutendsten, vielseitigsten, aber auch (zumindest hierzulande) unbekanntesten französischen Krimiautoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein umfangreiches Werk enthält Noir-, Gangster- und Polizeiromane, Psychothriller und eine Handvoll Spionageromane. Die pessimistische Grundstimmung, der karge, geschliffene Stil und die vielschichtigen Figuren zeichnen sie aus. Der Autor erzählt seine harten, schnörkellosen Geschichten ohne jegliche Sentimentalität, beschreibt Handlungen, ohne zu urteilen oder zu moralisieren. Getragen werden sie von verzweifelten, am äusserten Rand der Gesellschaft sich bewegenden Figuren, die sich kleinbürgerlichen Werten verweigern im Leben nicht mehr zurechtkommen und deshalb gewalttätig werden – mit fatalen Folgen, auch für sie selbst. Die Mehrzahl der Bücher spielt in „seiner“ Stadt Paris, deren Atmosphäre eindrucksvoll gezeichnet ist.

Delville kam als Sohn einer russisch-französischen Mutter und eines französischen Vaters in Paris zur Welt. Er studierte kurze Zeit in Belgien und Frankreich, blieb jedoch ohne Abschluss und ging stattdessen zur Marine. Im Zweiten Weltkrieg geriet er in deutsche Gefangenschaft. 1943 kehrte er nach Paris zurück, heiratete und wurde Vater von zwei Töchtern. Um sein Leben als Vagabund und Weltenbummler zu finanzieren, verrichtete er Jobs wie Holzfäller, Matrose, Bauarbeiter, Plattenleger, Filmstatist, Vertreter und Fotograf. Mitte der 50er-Jahre begann er zu schreiben. Seine ersten fünf Romane (keine Krimis) kamen unter dem Pseudonym Yves Dieryck heraus, dem Namen seiner Grossmutter. Ab 1966 verwendete er nur noch den nom de plume Francis Ryck. Achtzehn seiner rund sechzig Romane sind von 1966 bis 1978 in der Série Noire von Gallimard erschienen, zehn davon liegen in durchwegs ordentlichen Übersetzungen auf Deutsch vor – neun als ‚rororo thriller‘ bei Rowohlt, einer (‚Überleben soll keiner…‘) als ‚Phoenix Schocker‘ bei Scherz. 1987 erschien seine ‚Autobiographie d’un tueur professionel‘. Delville starb 87-jährig in Paris und hinterliess seine beiden Töchter, Michèle und Dominique.

Le cimetière des durs – Alle Fäden in der Hand, 1968

Zwei vierköpfige Gangs (Sava, Boldo, La Huche und Chefo, alle zwischen 50- und 60-jährig, auf der einen, die etwa dreissig Jahre jüngeren Jean, Lopez, Said und Rémy auf der anderen Seite) geraten sich in der Pariser Banlieue in die Haare. Dazwischen steht die abgebrühte Ex-Prostituierte Nita – sie ist Savas Ehefrau, Boldos Geliebte und Jeans Schwester. Da will es der Zufall, dass beide Gangs nach vermasselten Raubüberfällen im gleichen Gefängnis aufeinander treffen – ideale Gelegenheit, um miteinander abzurechnen. Am Ende sind fünf der acht Verbrecher tot, dahingerafft durch Krankheit, Mord oder Suizid – Resozialisierung in Reinkultur.

Drôle de pistolet – Ein Sender im Gepäck, 1969

Der in London stationierte KGB-Spion Yako, eine schlaue, kampferprobte Figur mit vielen Facetten, steht im Zentrum der rasanten Man-on-the-Run-Story ‚Ein Sender im Gepäck‘. Die Geschichte beginnt damit, dass Yako auffliegt und den Briten die Namen von zwei eben erst in Dover eingetroffenen Kollegen preisgibt. Die beiden Agenten werden festgenommen, dafür kommt Yako frei und ist nun – ausgerüstet mit neuer Identität, zehntausend Pfund und einer Smith & Wesson – ganz auf sich allein gestellt. Die Jagd beginnt. Yakos Taktik ist einfach: Untertauchen in einer unberührten Landschaft, sich verhalten wie ein wildes Tier – bis ein „Loch“ entsteht, das alle Spuren verwischt; dann immerzu in Bewegung bleiben. Begleitet wird er von einem herrenlosen Hund, der sich ihm in der französischen Bergwelt angeschlossen hat. Bei seiner Flucht, die ihn über Avignon nach Malaga führt, freundet er sich mit dem kauzigen Säufer Barney und der klugen, sanftmütigen Psychologin Constance an (kann er ihnen vertrauen?), während der KGB-Mann Kubiaz und seine Männer sich dank eines – weiss der Teufel wo – versteckten Senders nicht abhängen lassen. Das atemberaubende Finale auf Ibiza hält für alle Beteiligten, und auch für die Leser, einige faustdicke Überraschungen bereit.

Paris va mourir – Überleben soll keiner…, 1969

Paris, 1968, wenige Monate nach den Studentenunruhen: Ein kleiner Spionagering – angeführt von dem ehemaligen Drogenhändler Braille und seinen mysteriösen (maoistischen?) Hintermännern, zusammengesetzt aus idealistisch gesinnten, leicht beeinflussbaren Studenten – versetzt die Stadt mit Bombenattentaten auf öffentlichte Verkehrsmittel in Angst und Schrecken. Als ein Vergnügungsschiff mitten in Paris in die Luft fliegt, beschliesst der französische Nachrichtendienst, den erfahrenen Agenten Roc in die Gruppe einzuschleusen. Prompt geht der nächste Anschlag schief, was natürlich Brailles Misstrauen gegenüber Roc erweckt, doch der Geheimdienstchef kann dies mit einem Trick gleich wieder zerstreuen. Dann aber legen die Terroristen einen Zacken zu, indem sie einen wahnwitzigen Sabotageakt in die Wege leiten – eine tödliche biologische Waffe, ausgetüftelt durch den altersschwachen Mikrobiologen Sir Francis Jameson und seine fanatischen Genossen, soll dem Trinkwasser beigemengt werden, um einen grossen Teil der Erdbevölkerung auszulöschen. Ryck lässt die turbulente – parodistische Züge aufweisende – Geschichte mit einem bizarren Showdown auf der Baleareninsel Formentera ausklingen.

Les Chasseurs de sable – Wie Sand zwischen den Fingern, 1971

Harry Chancel, ein reicher amerikanischer Geschäftsmann mit erheblicher krimineller Energie, und seine Frau Koré sind mit ergaunerten Diamenten im Wert von einer halben Million Dollar in Frankreich unterwegs und erwarten einen anonym angekündigten Raubüberfall, der jedoch ausbleibt. Dann wird Koré von den jungen Norwegers Eric und Holl entführt, eine saftige Lösegeldforderung durch Harrys Konkurrenten Handorfer lässt nicht lange auf sich warten. Als Harry bezahlt, ohne dass seine Frau daraufhin zurückkommt, schwant ihm, dass sie die Entführung selbst eingefädelt hat, um ihrer langweilig gewordenen Ehe zu entfliehen. Der sonst immer so cool auftretende Harry akzeptiert dies nicht. Er begibt sich auf die Suche nach ihr, während sie sich an der Seite der Kidnapper erstmals nach langer Zeit wieder frei fühlt. An der marokkanischen Küste nimmt die Geschichte ein betrübliches Ende.

Le Compagnon indésirable – Flieh nicht mit Fremden, 1972

Zwei Männer und eine Frau auf einer einsamen Alp. David, Kinderbuchautor, und Julia, Herstellerin von Gürteln und anderen Lederwaren, die sich vor fünf Jahren hierhin zurückgezogen haben, um in einer Hütte ein einfaches Leben fernab der Ziviliation zu führen. Beeren, Pilze, Holz und Steine, drei Katzen, sonst nichts. Thomas, vor drei Tagen aus dem Gefängnis entwichen und seither auf der Flucht, kommt bei ihnen unter: Er habe zufällig etwas erfahren, das niemand wissen darf, ein riesiger Apparat sei hinter ihm her, um ihn mundtot zu machen – mehr will oder kann er nicht preisgeben. Als es ihm gelingt, seinen Gastgebern begreiflich zu machen, dass nun auch sie in Lebensgefahr schweben, lassen die beiden ihn nicht etwa im Stich, sondern beschliessen, ihren Wohnsitz sicherheitshalber eine Zeitlang zu verlassen und sich mit ihm nach Spanien abzusetzen. Doch da ist die Lage bereits ausser Kontrolle. Robert Enricos Verfilmung dieses bitterbösen „Paranoia-Thrillers“ – Titel: ‚Le Secret‘, auf Deutsch: ‚Das Netz der tausend Augen‘ – kam 1974 in die Kinos. Marlène Jobert als Julia, Philippe Noiret als David und Jean-Louis Trintignant als Thomas spielten die Hauptrollen, wobei die Namen der beiden männlichen Figuren seltsamerweise vertauscht worden sind.

Voulez-vous mourir avec moi? – Wollen Sie mit mir sterben?, 1973

Michèle, eine vereinsamte, todessehnsüchtige, in den Tag hinein lebende 22-jährige Französin triff in Paris zufällig auf den Kanadier Peter, der sich nur dann lebendig fühlt, wenn er eine junge Frau zu Tode quält. Doch dieses Mal hält die Gleichgültigkeit seines Opfers Peter davon ab, bis zum letzten zu gehen. Die beiden bleiben zusammen, er erzählt ihr von seiner Ehe mit einer schizophrenen Frau und davon, wie es zu den bisher vier Morden gekommen ist, und sie hört ihm ungerührt zu. Sie kommen sich näher, schlafen miteinander, bauen eine Art von Beziehung auf, die natürlich kein gutes Ende nehmen wird. Mit dem Psychothriller ‚Wollen Sie mit mir sterben‘, der Geschichte von zwei „verlorenen, von Gott und der Welt vergessenen Menschen“, setzt der Autor seine pessimistische, ja nihilistische Weltanschauung besonders eindrucksvoll in Szene.

Le testament d’Amérique – Die Testamentsvollstrecker, 1974

Marc Holnay hat seine Verbrecherlaufbahn vor sechzehn Jahren aufgegeben, um in Südfrankreich eine Ranch zu betreiben, auf der er grossstadtmüde Menschen aufnimmt. Als ihn einer dieser Besucher zur Weissglut treibt, ersticht er ihn im Affekt und flüchtet daraufhin nach Paris, um bei seinem alten Kumpel André Lasco unterzukommen. Vergebliche Hoffnung, denn André ist laut seiner Frau Lea bis auf weitere unabkömmlich, sie sichert ihm indessen ihre Hilfe für einen Neubeginn im Ausland zu. Doch Lea hat eine heroinsüchtige Tochter, erhält immer wieder nächtliche Anrufe, wird von zwei korsischen Mafiatypen in die Mangel genommen – und André ist offenbar vor vier Jahren gewaltsam ums Leben gekommen. Erst jetzt, und somit viel zu spät, begreift Marc Holnay (lieber stirbt er, als noch einmal in den Knast zu wandern), wie aussichtslos seine Lage ist.

Effraction – Sterben, das ist nicht so wichtig, 1975

Ein bewaffneter Banküberfall in der südfranzösischen Provinz, der arg aus dem Rufer läuft: Val, Ende zwanzig, hat nach vier Jahren Knast mit dem Leben mehr oder weniger abgeschlossen. Er richtet ein Massaker an, schüttelt seine Verfolger ab und taucht mit der Beute unter. Gleichzeitig treffen zwei einsame, orientierungslose Menschen in Nizza zufällig aufeinander – der kürzlich von seiner Frau verlassene Mathematiklehrer Pierre und die Medizinstudentin Christine, die gerade ihren Vater beerdigt hat. Zwischen den beiden entspinnt sich eine innige Beziehung. Sie verbringen ihre erste Nacht ausgerechnet in dem Hotel, in dem auch Val Quartier bezogen hat. Als die Polizei ihm immer näher kommt, nimmt er seine Zimmernachbarn Christine und Pierre als Geiseln – und verschwindet mit ihnen in einer gottverlassenen Bergwelt. Dann fällt ein letzter Schuss.

Prière de se pencher au-dehors – Ehrlich währt am kürzesten, 1978

Die Pariser Ganoven Olivier, Roland und Valérie sind wieder einmal knapp bei Kasse, Arbeit zu suchen ist jedoch nicht ihr Ding. Ab und zu eine Pferdewette, ein kleiner Bruch, eine Handtasche. Mitunter sind auch ihre arabischen Nachbarn Ahmed, Hassan und Said mit von der Partie. Als Roland bei einem nächtlichen Ausflug mit dem Motorrad einen Unfall baut, lernen sie den sympathischen Flic Inspecteur Fardi kennen, der schon bald bei ihnen ein- und ausgeht, und auch der alte Boldo von nebenan ist ein gerne gesehener Gast. Eine Art von Patchwork-Familie, doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Mit dieser wunderbaren Gaunerkomödie untermauert Ryck seine feste Überzeugung, dass Glück und echte Freundschaft nicht mit bürgerlichen Normen vereinbar sind.

Bibliografie:                                                                                                

‚Les Heures ouvrables‘ (1963), ‚Nature morte aux châtaignes‘ (1963), ‚L’histoire d’une psychose‘ (1964), ‚L’apprentissage‘ (1965), ‚Opération Millibar‘ (1966), ‚Ashram drame‘ (auch unter dem Titel ‚Satan S.A., 1966), ‚Feu vert pour poisson rouge‘ (1967), ‚La cimetière des durs‘ – ‚Alle Fäden in ihrer Hand‘ (1968), ‚Incognito pour ailleurs‘ (1968), ‚La peau de Torpedo‘ (1968), ‚Drôle de pistolet‘ (auch unter dem Titel ‚Le Silencieux‘) – ‚Ein Sender im Gepäck‘ (1969), ‚Paris va mourir‘ – ‚Überleben soll keiner‘ (1969), ‚L’incroyant‘ (1970), ‚Les chasseurs de sable‘ – ‚Wie Sand zwischen den Fingern‘ (1971), ‚Le campagnon indésirable‘ – ‚Flieh nicht mit Fremden‘ (1972), ‚Voulez-vous mourir avec moi?‘ (auch unter dem Titel ‚Mourir avec moi‘) – ‚Wollen Sie mit mir sterben?‘ (1973), ‚Le Prix des choses‘ – ‚Der Preis der Dinge‘ (1973), ‚Le testament d’Amérique‘ – ‚Die Testamentsvollstrecker‘ (1974), ‚Effraction‘ – ‚Sterben, das ist nicht so wichtig‘ (1975), ‚Le Fils des alligators‘ (1977), ‚Nos intentions sont pacifiques‘ (auch unter dem Titel ‚L’Entourloupe‘, 1977), ‚Prière de se pencher dehors‘ – ‚Ehrlich währt am kürzesten‘ (1977), ‚Nous n’irons pas à Valparaiso‘ (1980), ‚Le Piège‘ – ‚Eine Falle für drei Personen‘ (1981), ‚Le nuage et la foudre‘ (1982), ‚Le conseil de famille‘ (1983), ‚Il fera beau à Deauville‘ (1984), ‚Un cheval mort dans une baignoire‘ (1986), ‚Autobiographie d’un tueur professionel‘ (1987), ‚Requiem pour un navire‘ (1989), ‚L’Honneur des rats‘ (1995), ‚Fissure‘ (1998), ‚Le Point de jonction‘ (2000), ‚Le Chemin des enfants morts‘ (2001), ‚La discipline du diable‘ (2004), ‚La casse‘ (2007), ‚L’Enfant du lac‘ (2007).

Als Edo Ryck: ‚Mauvais Sort‘ (1999).

Gemeinsam mit Marina Edo: ‚Les Genoux cagneux‘ (1990), ‚Les Relations dangereuses‘ (1990), ‚L’Eté de Mathieu‘ (1991), ‚La Petite fille dans la forêt‘ (1993), ‚La Toile d’araignée dans le rétroviseur‘ (1995), ‚L’Autre versant de la nuit‘ – ‚Rendezvous fatal‘ (1996).