(1973)

Antonin Varenne wurde in Paris geboren und wuchs in verschiedenen Regionen Frankreichs auf. Nach dem Philosphiestudium an der Université Paris Nanterre arbeitete er als Zimmermann und Fassadenkletterer für ein Bauunternehmen. Danach verrichtete er Gelegenheitsjobs in Island, Mexiko und am Fuss der Appalachen, ehe er sich mit seiner amerikanischen Frau und dem gemeinsamen Kind im gebirgigen Departement Creuse niederliess, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. In einem Interview bezeichnete er Jean-Patrick Manchette und den Mexikaner Paco Ignacio Taibo II als wichtigste Einflüsse, und nicht wie erwartet Cormac McCarthy oder James Ellroy, mit denen er oft verglichen wird. Sein Werk besteht derzeit aus zwölf Romanen, von denen vier ins Deutsche gebracht worden sind.

In Varennes drittem Krimi ‚Fakire‘ leitet der abgehalfterte Pariser Police Lieutenant Guérin eine winzige Abteilung, die sich ausschliesslich mit Selbstmorden befasst. Zurzeit hat er drei höchst seltsame Fälle am Hals, die nichts miteinander zu tun haben: Ein nackt auf einer Autobahn zwischen den Autos rumrennender junger Mann wurde von einem Laster überfahren; ein anderer warf sich im Naturkundemuseum auf das Skelett eines Potwals und wurde von einer Rippe durchbohrt; und schliesslich, besonders spektakulär: ein Golfkriegveteran, der im Irak für die CIA Gefangene folterte, darob den Verstand verlor, verblutete bei einer Fakir-Nummer jämmerlich auf der Bühne eines Sado-Maso-Clubs – ein Ereignis, das seinen amerikanischen Freund und Therapeuten John Nichols auf den Plan ruft, denn dieser glaubt nicht an Suizid. Aus diesen Bausteinen konstruiert Varenne einen merkwürdigen, mit Nebenschauplätzen und Gedankenfetzen etwas überladenen Noir, der ein elendes Ende nimmt.

Das düstere Juwel ‚Die sieben Leben des Arthur Bowman‘, Western, Thriller, Abenteuer- und Kriegsroman in einem, spielt in den 1850er- und 60er-Jahren mit dem Zweiten Anglo-Birmanischen Krieg (1852/53) als Ausgangspunkt. Sergeant Arthur Bowman ist der härteste Hund der mächtigen britischen Ostindienkompanie, gefürchtet von den Soldaten, verehrt von den Offizieren – Kadavergehorsam, unbändiger Überlebenswillen, Grausamkeit und Mut kennzeichnen ihn. Kein Wunder also, dass man gerade ihn auswählt, eine kleine Truppe auf dem Fluss Irrawaddy in das Königreich Ava zu führen – eine geheime Mission, die nicht gut ausgehen kann. Die zehn einzigen Überlebenden werden gefangen genommen und in Bambuskäfigen im Dschungel gefoltert, bis sie nach sechs Monaten freikommen und in ihre Heimat zurückgehen, schwer verletzt an Leib und Seele. Sprung nach London, Sommer 1859, kurz vor der Industriellen Revolution: Brütende Hitze, Wasserknappheit, Höllengestank und drohende Cholera prägen den Alltag, derweil Arthur Bowman sich seit fünf Jahren als Hilfspolizist durchschlägt und seine Wut mit Opium und Gin betäubt. Da stösst er eines Tages im Abwasserkanal auf die Leiche eines Mannes, der exakt dieselben Wunden aufweist wie damals er und seine Kameraden. Hat einer von ihnen Rache genommen für das, was ihnen in Asien zugefügt worden ist? Oder hat er selbst den Mord in geistiger Umnachtung begangen? Bowman macht sich auf die Suche nach dem Täter, redet mit seinen in England verstreuten Leidensgenossen, erfährt, dass einer von ihnen im Wilden Westen lebt, und begibt sich auf die Reise dorthin. Bei seiner Ankunft in New York wird er Zeuge eines Textilarbeiterinnen-Streiks, der von der Polizei brutal niedergeschlagen wird. Dieses Erlebnis und die fast gleichzeitige Auflösung der Ostindienkompanie sind ein Wendepunkt in Bowmans Leben. Er entwickelt ein Gewissen und Gefühle, verliebt sich in die junge Witwe Alexandra. Die Jagd nach dem Killer geht aber trotzdem weiter. Die Spuren führen in Richtung Süden, wo inzwischen weitere Morde nach demselben Muster verübt worden sind. Bowman reitet durch endlose, unbewohnte Landstriche, trifft auf Indianer und Sklaven, auf weisse Männer, die der Lynchjustiz verfallen sind – und findet nach vielen Irrwegen die Lösung.

Pete Ferguson, Hauptperson des 1871/72 spielenden Western Noir ‚Äquator‘, ist eine gebrochene Figur: Deserteur im amerikanischen Bürgerkriegs, jähzorniger Mörder, kaltblütiger Dieb und Brandstifter. Unter dem Decknamen Billy Webb befindet er sich auf der Flucht vor sich selbst mit dem Wunsch, in dem geheimnisvollen, sagenumwobenen Land „Äquator“ endlich zur Ruhe zu kommen. Die abenteuerliche Reise führt von Nebraska und Kansas an den Rio Grande, wo er an einer äusserst blutigen Büffeljagd teilnimmt, weiter über Guatemala (in der Zeit der Revolution) und Französisch-Guyana in die brasilianische Handelsstadt Macapa, durch Indianer-Reservate, Dschungel und Prärien – und findet als geläuterter Mann seine grosse Liebe, die Xinca-Indianerin Maria Bautizada aus Guatemala. Einen roten Faden bilden sein jüngerer Bruder Oliver und ein gewisser Rancher namens Arthur Bowman, wobei die beiden erst auf den letzten Seiten leibhaftig an den Geschehnissen teilhaben.

Schauplatz des siebten Romans ‚Die Treibjagd‘ ist eine namenlose im Zentralmassiv gelegene Ortschaft, die in dritter Generation von den streitsüchtigen Familien Courbier und Messenet beherrscht wird, seine besten Zeiten jedoch längst hinter sich hat. Zwischen den Fronten steht der furchtlose, eigenbrötlerische Revierjäger Rémi Parrot, dessen Gesicht seit einem zwanzig Jahre zurückliegenden Unfall verunstaltet ist. Rémi, der sich mit fünfzehn in Michèle Messenet verliebte – und sie immer noch liebt. Michèles gewinnsüchtiger Bruder Didier leitet als derzeitiges Clan-Oberhaupt die Fabrik „TechBois“ – hier werden gefällte Bäume zu Papierbrei und Pressholz verarbeitet. Da jedoch dreiviertel der Wälder der Familie Courbier gehören, sind Konflikte nur eine Frage der Zeit. Ein weiterer lästiger Aussenseiter neben Rémi und seinem einzigen Freund, dem Säufer Jean, ist der idealistische Förster Philippe Mazenas, der seine Liebe zur Natur mit dem Leben bezahlt – ein Mord, der am Ursprung einer Reihe von Gewaltakten steht. Die Fabrik wird abgefackelt, Rémi, der auf Pläne für den Bau eines Ferien- und Freizeitparks und Hinweise auf weitere Umweltverbrechen stösst, überlebt einen Mordanschlag nur knapp, und der unbestechliche Gendarmerie-Kommandant Vanberten tappt lange Zeit im Dunkeln. Varenne veredelt die düstere, mit vielen Zeitsprüngen erzählte und eigentümlichen Titeln versehene Geschichte (z.B. Kapitel 1: Zwanzig Jahre nach dem Unfall, neun Tage nach der Entdeckung der ersten Leiche, zwölf Stunden nach der Schiesserei) durch eindringliche Schilderungen der urwüchsigen Region mit ihren Schluchten, Höhlen, unterirdischen Gängen, Wildschweinrotten und dichten Wäldern, und mit einer schönen, unsentimentalen Liebesgeschichte.

Bibliografie:

‚Le Fruit de vos entrailles‘ (2006), ‚Le Gâteau mexicain‘ (2007), ‚Fakirs‘ – ‚Fakire‘ (2009), ‚Le Mur, le Kabyle et le Marin‘ (2011), ‚Brèves de noirs‘ (2014), ‚Battues‘ – ‚Die Treibjagd‘ (2015), ‚Cat 125‘ (2016), ‚La Toile du monde‘ (2018), ‚L’artiste‘ (2019);

Historischer Zyklus:Trois mille chevaux vapeur‘ – ‚Die sieben Leben des Arthur Bowman‘ (2014), ‚Equateur‘ – ‚Äquator‘ (2017), ‚Dernier tour lancé‘ (2021).