(Pseudonym für Jean Herman, 1933-2015)
Jean Vautrin wurde als Jean Herman in Pagny-sur-Moselle, Lothringen, als Spross eines Artztes und einer Schneideringeboren und wuchs dort und in der burgundischen Stadt Auxerre auf. Er studierte am Pariser Institut des Hautes Etudes Cinématographiques (IDHEC) und lehrte danach zwei Jahre französische Literatur am Wilson College in Bombay (dem heutigen Mumbai). In dieser Zeit war er auch als Filmredakteur und Schöpfer von humoristischen Zeichnungen tätig und als Regieassistent an Roberto Rosselinis Dokumentarfilm ‘India, terre mère’ beteiligt. Von 1959 bis 1961 absolvierte er seinen Militärdienst beim Service Cinéma des Armées im Fort d’Ivry. Anschliessend machte er als Filmregisseur von sich reden – Fernsehproduktionen und der erfolgreiche Streifen ‘Adieu l’ami’ (mit Alain Delon und Charles Bronson in den Hauptrollen) standen im Zentrum seines Schaffens.
In den 70er-Jahren legte sich Herman das Pseudonym Jean Vautrin zu, um (neben etlichen mit seinem angestammten Namen gezeichneten Drehbüchern) Erzählungen, Krimis und andere Romane zu schreiben. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die drei frühen – auch auf Deutsch vorliegenden, mit bizarren Gestalten, schrillen Actionszenen und skurrilen Einfällen gespickten – Krimis ‘Billy-ze-Kick’, ‘Bloody Mary’ und ‘Groom’, das autobiografische Werk ‘La vie ripolin’ (auf Deutsch: ‘Haarscharf am Leben’), der 1989 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Roman ‘Un grand pas vers le bon Dieu’ (auf Deutsch: ‘Das Herz spielt Blues’) und die achtteilige, gemeinsam mit Dan Franck von 1987 bis 2009 verfasste – in den 1930er- bis 50er-Jahren angesiedelte – Serie um den jüdisch-ungarischen nach Frankreich ausgewanderten Fotoreporter Blèmia Borovicz, genannt Boro.
In ‘Billy-ze-Kick’ zieht ein mysteriöser Billy-ze-Kick mordend durch den gesichtslosen Sozialbunker einer Pariser Trabantenstadt – “ein Ghetto aus Kaninchenställen, Kakteen, abgestotterten Autos und Mietfernsehen”. Billy-ze-Kick ist aber auch der Held einer Gutenachtgeschichte, die der rassistische, frustrierte, zu seinem Groll nur 1.63 grosse Bulle Clovis “Roger” Chapeau, dessen gelangweilte, arg vernachlässigte Frau Juliette heimlich auf den Strich geht, seiner verträumten, charmant lispelnden siebenjährigen Tochter Julie-Berthe erzählt. Die zwei Billys, Chapeaus fiktive Figur und der Killer – womöglich gibt es noch mehr von ihnen! – ändern ständig ihr Aussehen, führen Krieg gegen die verhasste Gesellschaft – und kommen stets in letzter Minute davon. ‘Billy-ze-kick’, ein märchenhafter, tiefsinniger, hochkomischer Noir, ist auch eine Hommage an Raymond Queneaus Roman ‘Zazie dans le métro’.
‘Bloody Mary’, eine finstere, mit schnellen szenischen Schnitten vorangetriebene Geschichte, handelt von höchst gegensätzlichen sozialen Aussenseitern. Locomotive-Baba N’Doula aus Mali, Fassadenreiniger im Betonwohnturm, verliebt sich in den Rotschopf France, genannt Bloody Mary, die weggetretene Ehefrau des psychopathischen Polizisten Sam Schneider; Jean-Y. Granvallet, ein gewalttätiger, bis zu den Zähnen bewaffneter, gerade mal achtzehnjähriger Spinner, läuft Amok; Granvallets Adoptivvater Emile kämpft als alkoholbeduselter Kanalarbeiter in der Kloake mit grotesken Fischen, während seine wesentlich jüngere Ehefrau Victoire sich mit einem ihrer Freier vergnügt. Als Bloody Mary felsenfest behauptet, sie sei von N’Doula vergewaltigt worden, hetzt ihr Mann den Afrikaner mit seiner Bürgerwehrtruppe in den Tod, es kommt zu wilden Schiessereien. Der frühreife siebenjährige Junge Butch, ein völlig durchgeknalltes Produkt der Siedlung, überlebt das Blutbad – und zieht mit Victoire Granvallet von dannen. Auf zweihundert Seiten zeichnet der Autor das apokalyptische Bild einer gesetzlosen, verrohten Gesellschaft.
‘Groom’ (Untertitel: Verbrechenstagebuch, aufgezeichnet von einem Kind dieses Jahrhunderts) dreht sich um den 25-jährigen Groom (sinngemäss: Diener) Chaim Bronstein, einen verkrüppelten, durchgedrehten Hotelpagen, in seinen eigenen Worten “ein humpelnder Haufen Scheisse voll Phantasie” mit einer Vorliebe für Sex mit aufblasbaren Puppen, der eines Tages seinen kranken Phantasien freien Lauf lässt und ein Blutbad anrichtet.
Jean Herman, ein überzeugter Antimilitarist und Antikolonialist, war seit 1963 mit der grossartigen Theater- und Film-Schauspielerin Anne Doat verheiratet und hatte mit ihr drei Kinder – unter ihnen ein autistischer Sohn, Julien, was die beiden dazu bewog, die Vereinigung ‘Autisme Solidarité’ zu gründen. Das Ehepaar lebte auf einem grossen Anwesen im Département Lande im Südwesten Frankreichs, bis es sich 1999 in Gradignan am Rande von Bordeaux niederliess. Er starb dort im Alter von 82 Jahren.
Bibliografie (nur Kriminalromane):
‘A bulletins rouges’ (1973), ‘Billy-ze-Kick’ – ‘Billy-ze-Kick’ (1974), ‘Typhon gazoline’ (1977), ‘Bloody Mary’ – ‘Bloody Mary’ (1979), ‘Groom’ – ‘Groom’ (1980), ‘Canicule’ (1982), ‘Le roi des ordures’ (1997), ‘Un monsieur bien mis’ (1997), ‘L’homme qui assassinait sa vie’ (2001), ‘Le journal de Louise B.’ (2002).