(*1946, schreibt auch als J.-B. Nacray)

Patrick Raynal wurde in Paris geboren und wuchs im Südwesten Frankreichs auf, zuerst bei seiner Mutter, ab 1960 bei seinem damals in Saint-Paul-de-Vence lebenden Vater. Er studierte Französische Literatur an der Universität Nizza mit einem Abschluss 1969. Während dieser Zeit wurde er aufgrund von linksradikalen Aktivitäten zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Nach dem Militärdienst bei den Gebirgsjägern verrichtete er Gelegenheitsjobs in der Bretagne, kehrte dann an die Côte-d’Azur zurück und arbeitete kurze Zeit als Versicherungsagent.

Anfang der 80er-Jahre begann der glühende Raymond Chandler-Verehrer seine Laufbahn als Krimiautor. Daneben arbeitete er als Literaturkritiker für die Tageszeitungen ‚Nice Matin‘ (1982-88) und ‚Le Monde des Livres‘ (1990-95), als Übersetzer aus dem Englischen, Verfasser von Vorworten zu Romanen sowie als Kinder- und Drehbuchautor. Von 1991 bis 2004 war er Herausgeber der ‚Série Noire‘ im Pariser Verlagshaus Gallimard. Danach wechselte er zum Fayard-Verlag, wo er bis 2009 die Sammlung ‚Fayard Noir‘ betreute.

Der seit 1970 mit der Übersetzerin und Autorin Arlette Lauterbach verheiratete Vater dreier erwachsener Kinder lebt heute in seiner Geburtsstadt und unterrichtet kreatives Schreiben am Institut des Sciences Politiques.

Aus Raynals umfangreichem Werk sind nur wenige Titel ins Deutsche übertragen worden: Die Krimis ‚Halbmond über Nizza‘, ‚Pulp und der Riss im Beton‘ aus der Reihe ‚Le Poulpe‘ und ‚In der Hitze von Nizza‘ sowie der Kurzroman ‚Landungsbrücke für Engel‘ und die Erzählung ‚Ein Fisch namens Le Capitaine‘ aus dem Sammelband ‚Corbucci‘, beide mit Privatdetektiv Giuseppe Corbucci als Hauptfigur.

In ‚Pulp und der Riss im Beton‘ ermittelt Gabriel Lecouvreur alias Le Poulpe in dem bretonischen Kaff Kerletu, als dort Schiffe versenkt werden und dubiose Immobilien-Spekulanten ein Grundstück nach dem andern aufkaufen, obwohl das Militär einen grossen Teil der Küste gesperrt hat – und kommt nach manchen Rückschlägen, amourösen Verwicklungen und Alkoholexzessen einer grossen Sache auf die Spur.

‚Landungsbrücke für Engel‘ dreht sich um den frisch gebackenen Privatschnüffler Giuseppe Corbucci aus Nizza, einen allein stehenden, versoffenen, meistens blanken Ex-Journalisten mit linksradikaler Vergangenheit, der sich das Rüstzeug für seinen neuen Beruf mit der Lektüre von Chandlers Büchern erworben hat und jetzt, in seinem ersten Fall, kriminelle Machenschaften der höchsten Kreise seiner Stadt ans Licht zu bringen droht. In den im Sammelband ‚Corbucci‘ aufgezeichneten Fällen verschlägt es den hart gesottenen Detektiv unter anderem nach Tijuana, Sarajevo und Bamako, die Hauptstadt Malis.

Raymond Matas, Protagonist des vorzüglich ins Deutsche übertragenen Krimis ‚In der Hitze von Nizza‘ – in den 70er-Jahren als linksradikaler Studentenführer auf der Piste, jetzt Kripokommissar in Nizza – ist ein einsamer, desillusionierter Säufer und Misanthrop Anfang vierzig mit riesiger Wampe. Sein aktueller Fall kreist um einen vermummten Motorradfahrer, der ein kleines Juweliergeschäft ausgeraubt und dabei das alte Inhaberpaar erschossen hat. Fast gleichzeitig erfährt Matas, dass er einen 23-jährigen Sohn namens Emmanuel hat, der seit kurzem spurlos verschwunden ist – ist er der gesuchte Verbrecher? In Matas erwachen Vatergefühle, er versucht mit allen Mitteln, seinen Sohn aufzuspüren, ihn aus dem Dreck zu ziehen – und findet dabei vor allem sich selbst, seine Vergangenheit, sein wahres Gesicht. In einer wichtigen und vielschichtigen Rolle: Matas‘ (und Raynals) Stadt Nizza: „Das Bild einer alten Stadt – arm und grimmig, doch fest entschlossen, allein das geschminkte Gesicht einer hartnäckigen Verführerin von sich sehen zu lassen“.

Die im Jahr 2008 veröffentlichte autobiografische Erzählung ‚Lettre à ma grand-mère‘ widmete Raynal seiner Grossmutter Marie Pfister, die als Mitglied der Résistence im März 1944 von den Nazis verhaftet und nach Ravensbrück deportiert worden war – und überlebte.

Bibliografie:

‚Un tueur dans les arbres‘ (1982), ‚La clef de seize‘ (1982), ‚Ombres blanches‘ (1982), ‚Nice, 42. Rue‘ (1985), ‚Nostalgia in Times Square‘ (1987), ‚Fenêtre sur femmes‘ (1988), ‚Nice-Est‘ – ‚Halbmond über Nizza‘ (1988), ‚Arrêt d’urgence‘ (1990), ‚Le Poulpe – arrêtez le carrelage‘ – ‚Pulp und der Riss im Beton‘ (1995), ‚Né de fils inconnu‘ – ‚In der Hitze von Nizza‘ (1995), ‚Un tueur dans les arbres‘ (1996), ‚Un ornithorynque dans le tiroir‘ (1996), ‚Blue movie‘ (1997), ‚En cherchant Sam‘ (1998), ‚Le marionnettiste‘ (1999), ‚Le ténor hongrois‘ (1999), ‚Chasse à l’homme‘ (gemeinsam mit Jean-Bernard Pouy, 2000), ‚La poignée dans le coin‘ (2001), ‚La farce du destin‘ (gemeinsam mit Jean-Bernard Pouy, 2004), ‚Ex‘ (2009), ‚Au service secret de Sa Sainteté‘ (2012), ‚Une ville en mai (2016);

Giuseppe Corbucci-Serie: ‚Corbucci‘ (sechs Kriminalerzählungen, darunter ‚Ein Fisch namens Le Capitaine‘, 2001), ‚Le débarcadère des anges‘ – ‚Landungsbrücke für Engel‘ (2006), ‚Retour au noir‘ (2006).

Als J.-B. Nacray (gemeinsam mit Daniel Pennac und Jean-Bernard Pouy): ‚La vie duraille‘ – ‚Machtspiele‘ (1985).                                   

Gemeinsam mit Gérard Filoche: Cérium‘ (2017).