(1882-1957)

Leo(pold) Perutz kam als Sohn eines angesehenen jüdischen Textilkaufmanns in Prag zur Welt und wuchs an der Seite von drei Geschwistern mit Deutsch als Mutter- und Schulsprache auf. Als 19-Jähriger übersiedelte er mit seiner Familie nach Wien. Er war ein schlechter Schüler, musste schon in Prag die Schule wechseln und verliess das Gymnasium ohne Matura. Als Gasthörer an der Universität Wien und der Technischen Hochschule Wien bildete er sich zum Versicherungs-Mathematiker aus und arbeitete daraufhin bis 1923 (und noch einmal in seinen letzten zehn Lebensjahren) in diesem Beruf. In seiner Freizeit betätigte er sich als Schriftsteller – die erste Novelle kam 1907, der erste Roman ’Die dritte Kugel’ 1915 heraus – und Übersetzer.

Im März 1916 wurde Perutz an die russische Front geschickt, ein Lungenschuss bedeutete für ihn vier Monate später das Kriegsende. 1918 heiratete er die Arzttochter Ida Weil, die im März 1928 die Geburt des dritten Kindes nicht überlebte – ein schwerer Verlust für Perutz, der sich danach für längere Zeit aus der Öffentlichkeit zurückzog. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich liess er sich 1938 mit seiner zweiten Frau Greta Humburger und seinen Kindern in Palästina nieder. Er starb 1957 im Salzkammergut, wo er viele Sommer verbracht hatte, und wurde in Bad Ischl beigesetzt. Zum fünfzigsten Todesjahr des Autors veröffentlichte der Hamburger Literaturwissenschaftler Hans-Harald Müller die farbige, sehr lesenswerte Biografie ‚Leo Perutz‘.

Leo Perutz, ein erstrangiger Stilist und virtuoser Sprachkünstler, einer der grossen deutschsprachigen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, der in den 20er-und 30er-Jahren seine produktivste Zeit erlebte, hat ein recht schmales Werk hinterlassen. Es enthält einige Erzählungen, Novellen, Theaterstücke und Drehbücher, sechs historische Romane (‚Die dritte Kugel‘, ‚Der Marques de Bolivar‘, ’Turlupin’, ’Der schwedische Reiter’, ‚Nachts unter der steinernen Brücke‘ und ’Der Judas des Leonardo‘) und vier dem Krimigenre zuzurechnende Romane, die Elemente des Phantastischen enthalten. (Perutz behauptete allerdings standhaft, nie einen Krimi geschrieben zu haben, während James Bond-Schöpfer Ian Fleming, Jorge Luis Borges und Theodor Adorno (!) ihn als grandiosen Schöpfer von Spannungsliteratur bezeichneten.)

Zentrale Themen seiner mit mathematischer Präzision durchgearbeiteten und mit feiner Ironie erzählten Romane sind die Frage nach der Wirklichkeit unserer Erinnerungen, die Verschlingung von Traum und Realität. Perutz spielt mit der Wahrnehmung, indem er zwei sich konkurrenzierende Variationen des Geschehens entwickelt, ohne dass sich entscheiden liesse, welche Deutung der Wahrheit entspricht.

Im frühem Roman ‚Zwischen neun und neun‘ wird der Student Stanislaus Demba wegen Diebstahl verhaftet. Mit Handschellen versehen entkommt er der Polizei und hetzt nun während zwölf Stunden, von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, durch das k.u.k. Wien, gerät dabei andauernd in absurde Situationen, kann seinen Kopf jedoch immer wieder aus der Schlinge ziehen – bis zum bitteren, mit einer unerwarteten Pointe aufwartenden Schluss.

‚Der Meister des jüngsten Tages‘ beginnt mit einem „Vorwort statt eines Nachworts“, verfasst durch den unzuverlässigen Erzähler Freiherr von Yosch, ein ehemaliger Kavallerieoffizier der k.u.k. Armee. Der Roman kreist um eine Serie von mysteriösen Suiziden (oder Morden?), die sich 1909 in der höheren Wiener Gesellschaft zugetragen haben. Das neuste Opfer ist der Hofschauspieler Eugen Bischoff, der während einer Musikveranstaltung in seiner Villa durch Kopfschuss aus dem Leben scheidet. Drei der geladenen Gäste – Freiherr von Yosch, der vor vier Jahren mit Bischoffs damals noch ungebundener Frau Dina ein Verhältnis hatte, Bischoffs Freunde Ingenieur Waldemar Solgrub und Dr. med. Eduard von Gorski sowie Dinas jüngerer Bruder Felix, der sich sicher ist, dass Yosch seinen Schwager umgebracht worden – gehen den Todesfällen auf den Grund und stossen auf eine vierhundert Jahre zurückliegende, aber offenbar bis heute nachwirkende Legende, wonach ein Künstler nach der Einnahme einer halluzinogenen Drogen nur noch das Jüngste Gericht gemalt haben soll. Doch vielleicht ist all dies nur Yoschs Fantasie entsprungen, wie es zumindest die „Schlussbemerkungen“ eines anonymen Herausgebers nahelegen.

‚Wohin rollst du, Äpfelchen…‘ (der Titel bezieht sich auf ein russisches Volkslied, das die Ungewissheit der Zeit zum Ausdruck bringt) ist zunächst häppchenweise in der ‚Berliner Illustrirten Zeitung‘ erschienen, Millionen von Lesern verfolgten den Erstdruck der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg spielenden Geschichte, in der sich der rastlose ehemalige k.u.k. Offizier Georg Vittorin, eben erst der sibierischen Gefangenschaft entronnen, auf eine wahnwitzige Jagd begibt durch das vom Bürgerkrieg zerrissene Russland, um Rache zu nehmen an seinem Erzfeind Stabskapitän Seljukow, dem Straflager-Kommandanten, von dem er gequält und gedemütigt worden war. Doch Vittorin verfolgt eine falsche Spur, wird (auf der Seite der Rotarmisten) in den Krieg verwickelt, erkrankt schwer an Flecktyphus – und verliert langsam den Verstand. Nach zwei Jahren Irrfahrt kreuz und quer durch Europa, bei der er über Leichen geht, findet das herbeigesehnte „Duell ohne Zeugen“ in seiner Heimatstadt Wien statt, allerdings ganz anders, als er sich dies vorgestellt hat.

‚St. Petri-Schnee‘, beendet im Januar 1933 unmittelbar vor dem Machtantritt Hitlers, in Deutschland sogleich verboten, erzählt von dem Versuch des charismatischen Fanatikers Freiherr von Malchin, mit der Massendroge St. Petri-Schnee die Menschheit religiös zu erneuen, die Welt von Grund auf zu verbessern. Das Experiment geht jedoch schief, es droht eine Katastrophe von unvorstellbarem Ausmass. Dies alles, sowie eine kurze Affäre mit der extravaganten griechischen Wissenschaftlerin Bibiche, die ebenfalls für Malchin arbeitet, glaubt jedenfalls der junge Landarzt Georg Friedrich Amberg erlebt zu haben, als er im städtischen Krankenhaus Osnabrück nach fünf Tagen aus dem Koma erwacht – laut den Ärzten war er higegen fünf Wochen lang bewusstlos, und zwar als Folge eines Verkehrsunfalls, und nicht im Zusammenhang mit Malchins Projekt. Doktor Amberg, der sich als Opfer einer Verschwörung wähnt, versucht verzweifelt, die Geschehnisse dieser Wochen zu rekonstruieren – die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit zerfliesssen, und Ambergs Identität ist in Frage gestellt. Perutz gedachte mit diesem Roman seiner 31-jährig verstorbenen Frau Ida mit den Worten: „Der Einnerung an eine früh Vollendete, früh Gegangene gewidmet“.

Seit 2010 wird in Österreich jährlich der Leo-Perutz-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi mit Wien-Bezug verliehen, Stefan Slupetzky, Thomas Raab, Eva Rossmann, Andreas Gruber, Alex Beer und Anne Goldman gehören zu den Preisträgern.

Bibliografie:

‚Zwischen neun und neun‘ (1918), ‚Der Meister de jüngsten Tages‘ (1923), ‚Wohin rollst du, Äpfelchen…‘ (1928), ‚St. Petri-Schnee‘ (1933).