(*1944)

Geboren und aufgewachsen in Helena am Mississippi (Bundesstaat Arkansas), studierte James Sallis Literaturwissenschaft an der Tulane University in New Orleans. Von 1964 bis 1966 arbeitete er als Lyrikredakteur der kanadischen Zeitschrift ‚Riverside Quarterly‘. Danach zog er nach London, wo er bis 1968 das Sciencefiction-Magazin ‚New Worlds‘ redaktionell betreute. Nach seiner Rückkehr in die USA unterrichtete er zeitgenössische Lyrik und europäische Literatur. Als grosser Liebhaber der Jazzmusik schrieb er in seiner Freizeit Musikkritiken und trat selber in Clubs auf. Daneben verfasste er Gedichte, Essays (unter anderem über Jim Thompson und David Goodis), Kritiken, Sachbücher, eine Biografie des Autors Chester Himes, Drehbücher sowie (bereits ab 1964) Sciencefiction-Stories – und war erst noch als Übersetzer von Raymond Queneau, Pablo Neruda, Boris Pasternak und Alexander Puschkin ins Englische sowie als Atemtherapeut auf Intensivpflegestationen in verschiedenen Krankenhäusern tätig.

Einige Jahre später, nach einer Periode des Rumhängens in New York, Boston, New Orleans, Paris und Mexico City, erfand Sallis – beeinflusst durch die amerikanischen Noir-Autoren Himes, Goodis und Thompson, aber auch den französischen Romancier Queneau und den britischen Sciencefiction-Autor James Ballard – den dunkelhäutigen Dichter und Hobbydetektiv Lew Griffin aus New Orleans als Protagonisten einer sechsbändigen mit literaturgeschichtlichen Verweisen gespickten Reihe: Vielschichtige, düstere, in einem knappen, poetischen Stil verfasste (auch als Blues-Krimis bezeichnete) Geschichten, mit denen Sallis den Privatdetektivroman in neue Sphären gehoben hat.

Der erste Band ‚Die langbeinige Fliege’ beginnt im Jahr 1964 – Griffin, frisch geschieden, ein hasserfüllter Trinker, macht sich auf die Suche nach einer bekannten schwarzen Aktivistin – und endet 1990 mit einem Griffin, der nach diversen Alkoholentzugstherapien und ein paar Ermittlungen (das Aufspüren von vermissten Personen ist seine Spezialität) ein zurückgezogenes Leben als Krimiautor und Collegelehrer führt. Dann wird er von seiner Ex-Frau Jane aufgesucht, weil ihr gemeinsamer Sohn David in New York verschwunden wird. Wird er ihn finden? ‚Die langbeinige Fliege’ lebt weniger von den nicht besonders anspruchsvollen Kriminalfällen als von der eindringlichen Darstellung der zerrissenen Hauptfigur, die verweifelt versucht, ihrem Leben einen Sinn zu geben.

Nach Abschluss der Lew Griffin-Serie im Jahr 2002 erweckte Sallis einen neuen Protagonisten zum Leben: John Turner, Vietnamveteran und Ex-Polizist, der wegen Mordes elf Jahre im Gefängnis war, in dieser Zeit ein Geschichts- und ein Psychologiestudium abschloss, danach sechs Jahre als Psychotherapeut arbeitete, bis er es nicht mehr aushielt, die Einsamkeit suchte und sich im Südstaatenkaff Cripple Creek (Tennessee) in einer kleinen Hütte niederliess. Als im Ort ein brutaler Mord verübt wird, zieht der sympathische Sheriff Lonnie Bates, der bisher nur mit Bagatelldelikten zu tun hatte, Turner als Berater bei. ‚Dunkle Schuld’, der erste Band der Turner-Trilogie, berichtet jedoch eher am Rande von der Aufklärung des Verbrechens – viel Raum erhält die Person des Ich-Erzählers John Turner, eine denkwürdige Gestalt, deren Lebenslauf Sallis in zahlreichen Rückblenden Revue passieren lässt.

Im zweiten Roman avanciert Turner zum Deputy Sheriff in Cripple Creek in Tennessee. Am Ende dieses Bandes taucht seine vor langer Zeit „verloren gegangene“ Tochter Sandra „J.T.“ Burke überraschend in Cripple Creek auf – als angesehene, zuvor in Seattle ansässige Polizistin, die jetzt seine Vorgesetzte wird. Und dann muss Turner einen schweren Schicksalsschlag verkraften: den gewaltsamen Tod seiner grossen Liebe, der Anwältin Valerie „Val“ Bjorn.

Die drei melancholischen Noir-Romane bedeuten aufgrund der unzähligen Zeitsprünge und der minimalistischen Erzählweise eine anspruchsvolle, ungemein lohnende Lektüre.

1997 veröffentlichte Sallis das Einzelwerk ‚Deine Augen hat der Tod‘, eine eigentümliche Mischung aus Agententhriller und Road-Novel. Im Mittelpunkt stehen zwei ehemalige Geheimagenten, die im Kalten Krieg für schmutzige Angelegenheiten zuständig waren. Während David vor sieben Jahren der Ausstieg gelungen ist – er lebt jetzt mit einer Frau zusammen, die nichts von seiner Vergangenheit weiss, und arbeitet als Bildhauer -, läuft sein früherer Kollege aus dem Ruder: Er beginnt zu morden, und David soll ihn aus dem Verkehr ziehen. Die in knappem Stil beschriebene Reise quer durch Amerika endet in New Orleans mit einem verblüffenden Showdown.

Der junge, ungemein kaltschnäuzige, einer kaputten Familie entstammende Einzelgänger mit dem Übernamen Driver (tagsüber ist er Stuntfahrer in Hollywood, nachts gefragter Fluchtfahrer bei Raubüberfällen) besetzt die Hauptrolle in ‚Driver‘. Die schnörkellose Geschichte kreist um einen gründlich schief gegangenen Raubüberfall und spielt sich vorwiegend in schäbigen Lokalen der amerikanischen Provinz ab.

Vier verlorene Seelen bilden den Kern von Sallis‘ düsterem, halluzinatorischem Roman ‚Der Killer stirbt‘: Der todkranke Auftragskiller Christian, der diesen Beruf seit vierzig Jahren ausübt und noch einen letzten Hit zu leisten hat; der ausgebrannte Cop Sayles, dessen Frau ihre letzten Stunden in einem Sterbehospiz verbringt; Jimmie, ein zwölfjähriger Junge, der sich, verlassen von seinen Eltern, mit Ebay-Geschäften über Wasser erhält und von eigenartigen Träumen heimgesucht wird – Träume aus Christians Leben; der kleine Buchhalter Rankin, der aus dem Weg geräumt werden soll: Christian hat sich mit seinem baldigen Tod längst abgefunden, blickt in kurzen Einschüben auf sein Leben zurück und bündelt nun ein letztes Mal seine Kräfte, doch ein Unbekannter kommt ihm zuvor, feuert mehrere Schüsse auf Rankin ab – die Arbeit eines Profis, daran gibt’s keine Zweifel. Warum aber hat Rankin dann den Anschlag überlebt? Und warum überhaupt ist dieser unscheinbare, ältere Herr auf einmal Zielscheibe von Berufskillern? Christian beabsichtigt zunächst, der Sache auf den Grund zu gehen – doch dann rückt Sallis den Kriminalfall ganz in den Hintergrund, um den Schwerpunkt der Geschichte auf die Themen Einsamkeit, Vergänglichkeit, Zerfall und Sterben zu verlagern.

‚Willnot‘, im Februar 2019 auf dem ersten Rang der Krimibestenliste rangiert, ist kein Krimi, auch wenn zu Beginn ein Grab mit verwesten Leichen gefunden wird und später zwei Sniper und eine FBI-Agentin auf der Bildfläche erscheinen. Sondern das Porträt der fiktiven westamerikanischen Kleinstadt Willnot und des hier an der Seite eines Lehrers lebenden schwulen Arztes Lamar Hale, der seinen Beruf mit Leidenschaft ausübt – eine tiefgründige Geschichte über die existentielle Bedeutung von Freundschaft.

James Sallis lebt mit seiner Frau Karyn als freier Autor, Literaturkritiker und Kolumnist in Phoenix, Arizona.

Bibliografie:

Lew Griffin-Serie: ‚The Long-Legged Fly‘ – ‚Die langbeinige Fliege‘ (auch unter dem Titel ‚Stiller Zorn, 1992), ‚Moth‘ – ‚Nachtfalter‘ (1993), ‚Black Hornet‘ (1994), ‚Eye of the Cricket‘ (1997), ‚Blute Bottle‘ (1998), ‚Ghost of a Flea‘ (2001);

John Turner-Trilogie: ‚Cypress Grove‘ – ‚Dunkle Schuld’ (2003), ‚Cripple Creek‘ – ‚Dunkle Vergeltung‘ (2006), ‚Salt River‘ – ‚Dunkles Verhängnis‘ (2007); 

Einzelwerke: ‚Renderings‘ (1995), ‚Death Will Have Your Eyes‘ – ‚Deine Augen hat der Tod‘ (1997), ‚The Killer Is Dying‘ – ‚Der Killer stirbt‘ (2011), ‚Others of My Kind‘ (2013), ‚Willnot‘ – ‚Willnot‘ (2016), ‚Sarah Jane‘ – ‚Sarah Jane‘ (2019);

Drive-Romane: ‚Driver‘ – ‚Driver‘ (2005), ‚Driven‘ – ‚Driver 2‘ (2012).