(*1949)

Didier Daeninckx wurde als Sohn einer Arbeiterfamilie im Pariser Vorort Saint-Denis geboren und besuchte dort die Grundschule. Nachdem er mit siebzehn wegen rebellischen Verhaltens aus dem Gymnasium geflogen war, arbeitete er zehn Jahre als Drucker und dann drei Jahre als Betreuer von Jugendlichen. Anschliessend war er Redakteur bei verschiedenen lokalen und regionalen Blättern. Als er arbeitslos wurde, begann er an seinem ersten Krimi zu schreiben, der 1982 unter dem Titel ‚Mort au premier tour‘ herauskam.

Aus Daeninckx‘ umfangreichem Werk – es enthält über dreissig Romane, unzählige Erzählungen, gut ein Dutzend Jugendbücher, ferner Essays und Comics sowie zwölf Radio- und fünf Fernsehskripts – sind sechs Krimis und die Kurzromane ‚Statisten‘ und ‚Reise eines Menschenfressers nach Paris‘ ins Deutsche übertragen worden. In vielen seiner Bücher greift Daeninckx unbewältigte gesellschaftspolitische Probleme seines Landes auf – Résistence und Kollaboration, Algerienkrieg, Rechtsextremismus und Ausländerpolitik. Darüber hinaus ist er Redakteur der sozial- und politkritischen Website ‚amnistia.net‘. Er lebt in Aubertvilliers bei Paris.

‚Tod auf Bewährung‘ spielt im Januar 1920, kurz nach dem Ersten Weltkrieg. René Griffon, ein Überlebender der Gräuel an der Marne, arbeitet in Paris als Privatdetektiv. Aktueller Auftraggeber ist der Kriegsheld Colonel Fanfan de Larsaudiére, der mit dem ausschweifenden, in Briefen festgehaltenen Lebenswandel seiner reichen Frau erpresst wird. Die Übergabe des Lösegeldes endet im Desaster: Madame de Larsaudière und der Täter (ein Pfleger aus einem Sanatorium für kriegsversehrte Soldaten) werden erschossen, der Colonel liegt bewusstlos im Gras, und ein Unbekannter verschwindet mit den verräterischen Briefen. Doch Griffon lässt nicht locker, vertieft seine Ermittlungen – und findet heraus, dass nicht die Eskapaden von Fanfans Frau, sondern vertuschte Kriegsverbrechen dem Fall zugrunde liegen. Scharfsinnige Beobachtungen und kleine Geschichten werten den zeitkritischen Politthriller auf.

‚Bei Erinnerung Mord‘ befasst sich mit einem historisch verbürgten Geschehnis: Am 17. Oktober 1961 wurden in Paris unter der Leitung des berüchtigten Politikers und Kriegsverbrechers Maurice Papon (er war zur Zeit des Vichy-Régime für die Deportation französischer Juden aus Bordeaux verantwortlich, erst 1998 wurde ihm der Prozess gemacht) fast 200 unbewaffnete Menschen, die gegen den Algerienkrieg demonstrierten, von der Sicherheitspolizei getötet, darunter unerklärlicherweise Roger Thiraud, ein Studienrat für Latein und Geschichte. Zwanzig Jahre später kommt Thirauds posthum geborener Sohn, auch er Historiker, bei seinen Recherchen in Toulouse gewaltsam ums Leben. Der desillusionierte Polizeiinspektor Cadin (er trat in vier weiteren Büchern von Daeninckx auf, bis er Selbstmord beging) nimmt sich des Falles an und deckt die weit zurückliegenden Hintergründe der beiden Verbrechen auf.

‚Das Schloss bei Prag‘ erzählt von dem französischen Sciencefiction-Autor Frédéric Doline, der 1994 spurlos in der neu gebildeten Tschechischen Republik verschwindet. Seine Frau Nina beauftragt den ihr von früher her bekannten Privatdetektiv und Ex-Journalisten Francois Novacek – Spross einer Französin und eines tschechischen Fussballtrainers – mit der Suche nach dem Vermissten. Anspielungsreich verwebt Daeninckx fiktive Elemente mit historischen Fakten und zeichnet ein eindrucksvolles Bild der nachkommunistischen Politlandschaft in Osteuropa und des Zusammenspiels zwischen westlichem Opportunismus und (noch nicht aufgeweichten) östlichen Machtstrukturen.

Im Kurzroman ‚Statisten‘ entdeckt der vom gelangweilten Ehemann zum leidenschaftlichen Filmliebhaber mutierte Valère Notermans bei einem Trödler in Lens ein technisch brillantes, mit grauenvollen Szenen gefülltes Filmfragment, dessen Regisseur und Komparsen unbekannt sind. Die bei aller Abscheulichkeit faszinierenden, vermutlich in den 40er-Jahren entstandenen Bilder lassen Notermans keine Ruhe, er begibt sich auf die Suche ihrer Herkunft. Bei seinen mit ein paar skurrilen Kollegen durchgeführten Recherchen, die ihn durch den Norden Frankreichs führen, stösst er zunächst auf eine Mauer des Schweigens, dann wird er von zwei Rentnern tätlich angegriffen, und kurz danach offenbart sich ihm die erschütternde Wahrheit.

‚Nazis in der Metro‘ (der Titel ist eine Hommage an Raymond Queneaus berühmten Roman ‚Zazie dans le métro‘) handelt von schmutzigen rot-braunen Verwicklungen im Frankreich der mittleren 90er-Jahre, denen der antifaschistische Pariser Detektiv Gabriel Lecouvreur (alias „der Pulp“ bzw. „le Poulpe“) auf den Grund geht. („le Poulpe ist eine sehr umfangreiche, 1995 von Jean-Bernard Pouy als Antwort auf den Aufstieg des ‚Front National‘ ins Leben gerufene Krimiserie, zu der immer wieder andere Autoren einen Band beisteuern, aber auch der Nom de guerre des männlichen Helden der Reihe.)

Nachdem er ein Jahr zuvor mehrere Wochen in der französischen Kolonie Neukaledonien verbracht hatte, veröffentlichte Daeninckx 1998 den Kurzroman ‚Reise eines Menschenfressers nach Paris‘, in dem er ein übles Kapitel der französischen Geschichte aufrollt: 1931 wurden etwa hundert Kanaken (so lautet der Name der Ureinwohner Neukaledoniens) nach Frankreich geholt, damit sie endlich ihr Mutterland kennenlernen. In Tat und Wahrheit brachte man sie jedoch in einem Gehege in der zoologischen Abteilung der grossen Pariser Kolonialausstellung unter, wo sie von den Besuchern als Menschenfresser bestaunt werden konnten. Die haarsträubende Geschichte wird aus der Sicht eines direkt Betroffenen erzählt, der 54 Jahre später, als er am letzten Aufstand der Kanaken gegen die französischen Herrscher teilnimmt, auf sein Leben zurückblickt.

Bibliografie:

Inspecteur Cadin-Romane: ‚Mort auf premier tour‘ (1982), ‚Meurtres pour mémoire‘ – ‚Bei Erinnerung Mord‘ (auch unter dem Titel ‚Karteileichen, 1984), ‚Le géant inachevé‘ (1984), ‚Le bourreau et son double‘ (1986), ‚Le facteur fatal‘ (1990);

Pulp-Romane: ‚Nazis dans le métro‘ – ‚Nazis in der Metro‘ (auch unter dem Titel ‚Pulp und die alte Linke‘, 1996), ‚La route due rom‘ (2003);

Einzelwerke: ‚Le der des ders‘ – ‚Tod auf Bewährung‘ (1984), ‚Métropolice‘ (1985)‚ ‚Play-Back‘ – ‚Die Stimme der Bianca B.‘ (1986), ‚Lumière noire‘ (1987), ‚La mort n’oublie personne‘ (1989), ‚A louer sans commission‘ (1991), ‚Hors-limites‘ (1992), ‚Zapping‘ (1992), ‚Autres lieux‘ (1993), ‚Main courante‘ (1994), ‚En marge‘ (1994), ‚Le château en bohème‘ – ‚Das Schloss bei Prag‘ (1994), ‚Les figurants‘ – ‚Statisten‘ (1995), ‚Le goût de la vérité‘ (1997), ‚Cannibale‘ – ‚Reise eines Menschenfressers nach Paris‘ (1998), ‚La repentie‘ (1999), ‚Ethique en toc‘ (2000), ’12 Rue Merkert‘ (2001), ‚La mort en dédicace‘ (2001), ‚Le retour d’Atai‘ (2002), ‚Les corps râlent‘ (2003), ‚Je tue il‘ (2003), ‚Le crime de Sainte-Adresse‘ (2004), ‚Cités perdues‘ (2005), ‚Itinéraire d’un salaud ordinaire‘ (2006), ‚On achève bien les disc-jockeys‘ – ‚Nur DJs gibt man den Gnadenschuss‘ (2006), ‚Missak‘ (2009), ‚L’affranchie du périphérique‘ (2009), ‚Galadio‘ (2010), ‚Avec le groupe Manouchian‘ (2010), ‚Le banquet des affamés‘ (2012).