(1911-1968; schrieb auch als Piers England, Waldo Kellar, Mr Chickery, Joe Twist und George Munday)

Geboren in Teddington-on-Thames, London, als Sohn jüdischer Eltern, wuchs Gerald Kersh im Londoner Viertel Soho auf. Nach der Schulzeit (und dem Tod des Vaters 1929) stellte er sich auf eigene Füsse und schlug sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs durchs Leben, unter anderem als Schuldeneintreiber, Kellner, Rausschmeisser, Französischlehrer und Ringkämpfer, die Nächte verbrachte er in den schäbigsten Unterkünften oder im Freien. Nebenbei begann er zu schreiben. 1940 wurde er zum Dienst bei der Infanterie eingezogen. Im Sommer 1944 beteiligte er sich an der Befreiung von Paris. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs liess er sich in New York nieder, 1959 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an.

Gerald Kersh war ein ungemein fleissiger, ja besessener Autor. Seine grössten Erfolge feierte er mit seinen rund vierhundert Kurzgeschichten, die ein breites Spektrum – Horror, Fantasy, Romanze, Detektiv-Story, Sciencefiction, Humoreske – abdecken und in Periodika wie ‚Argosy‘ und ‚Lilliput‘ erstveröffentlicht wurden. Darüber hinaus verfasste er Gedichte, Radio- und Fernsehskripte, ungezählte Artikel und neunzehn Romane.

Ab Mitte der 50er-Jahre ging es nur noch bergab mit Kersh – Steuerschulden, Alkohol und Frauen (insbesondere die kanadische Journalistin Lee, die zweite seiner drei Ehefrauen), aber auch Krankheiten zogen ihn in den Abgrund. Verarmt und vergessen starb er 57-jährig in der Kleinstadt Kingston, New York State. Er hinterliess seine dritte Frau Florence „Flossie“ Sochis.

Aufgrund seines dritten und weitaus bekanntesten Romans ‚Nachts in der Stadt‘ aus dem Jahr 1938 zählt Kersh zu den Begründern des „Brit Noir“. Im Mittelpunkt steht Harry Fabian, ein verlogener und schmieriger, an massloser Selbstüberschätzung leidender Zuhälter, der unbedingt zu Bargeld kommen muss, um seine Laufbahn als Ringkampf-Promoter in Gang zu bringen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Er schickt seine naive Freundin Zoë auf den Strich, daneben gehören Erpressung und Betrug zu seinen bevorzugten Methoden der Geldbeschaffung – doch Fabians Pläne sind natürlich zum Scheitern verurteilt. Die im winterlichen Soho spielende, erstaunlicherweise ohne Kapitalverbrechen auskommende Geschichte erzählt von Menschen, die sich ständig am Rande des Abgrunds bewegen, und zeichnet ein eindrucksvolles Bild der Londoner Unterwelt zur Zeit der Wirtschaftsdepression. ‚Night and the City‘ wurde von Jules Dassin mit Richard Widmark in der Rolle des Harry Fabian verfilmt (deutscher Titel: ‚Die Ratte von Soho‘) und kam 1950 in die Kinos.

Am 27. Mai 1942 wurde Reinhardt Heydrich bei einem Attentat in Prag so schwer verletzt, dass er acht Tage später starb, worauf Heinrich Himmler am 9. Juni das tschechische Dorf Lidice auslöschte. In Kershs ein Jahr danach veröffentlichtem Roman ‚Die Toten schauen zu‘ heisst Heydrich Bertsch, Himmler Horner und Lidice Dudicka. Hier leben 405 liebevoll porträtierte Menschen in 90 Häusern, als die zynischen, mordlustigen Nazi-Offiziere einmarschieren, um ein Exempel zu statuieren. Die Männer werden erschossen und in ein Massengrab geworfen, die Frauen und Kinder verschleppt, die Häuser mit Kanonen vernichtet. In erschütternden Szenen schildert der Autor den Einbruch von gnadenloser Gewalt in eine unschuldige Dorfgemeinschaft und setzt so den Opfern ein Denkmal.

‚Ouvertüre um Mitternacht‘ spielt zwei Jahre vor sowie (in kurzen Szenen) zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg im Londoner Eastend. Dort wird 1937 das zehnjährige jüdische Mädchen Sonia Sabbatini sexuell missbraucht und erdrosselt, der Vater grämt sich darob zu Tode, und die Mutter führt fortan ein trostloses Leben. Als Detective Inspector Turgins Ermittlungen im Sande verlaufen, ergreift die reiche, hitzköpfige Rebellin Asta Thunderley die Initiative. Für sie ist klar, dass der Täter einer der Stammgäste der Bohème-Bar ‚Bacchus‘ sein muss, in der auch sie regelmässig verkehrt, und sie stellt ihm gemeinsam mit ihrer ältlichen Schwester Thea Olivia eine Falle. Der Mörder, der in der zweiten Hälfte des Romans mit seinen perversen, wahnhaften Fantasien ausgiebig zu Wort kommt, ist indes auf der Hut. Die zutiefst pessimistische Geschichte, eine Mischung aus Sozialstudie und Psychothriller, lebt weniger von dem Kriminalfall, als den meisterhaft gezeichneten Figuren – die Exzentrikerin Asta, darbende Künstler, österreichische Emigranten, soziale Aussenseiter, der schräge Erfinder Dr. Schiff und nicht zuletzt der wunderliche Theologe Mr. Pink, der Kershs Grundgedanken auf den Punkt bringt: „Es ist alles dasselbe. Majdanek, Belsen, Auschwitz, Sonia Sabbatini… Der Unterschied ist nur eine Frage der Grössenordnung und der Gesetzmässigkeit“.

Bibliografie:

‚Jews Without Jehovah‘ (1934), ‚Men Are So Ardent‘ (1935), ‚Night and the City‘ – ‚Nachts in der Stadt‘ (1938), ‚They Die With Their Boots Clean‘ (1941), ‚The Nine Lives of Bill Nelson‘ (1942), ‚The Dead Look On‘ – ‚Die Toten schauen zu‘ (1943), ‚Brain and Ten Fingers‘ (1943), ‚Faces in a Dusty Picture‘ (1944), ‚An Ape a Dog and a Serpent‘ (1945), ‚The Weak and the Strong‘ – ‚Die Schwachen und die Starken‘ (1945), ‚Prelude to a Certain Midnight‘ – ‚Ouvertüre um Mitternacht‘ (1947), ‚The Song of the Flea‘ (1948), ‚The Thousand Deaths of Mr Small‘ (1950), ‚The Great Wash‘ (auch unter dem Titel ‚The Secret Masters‘, 1953), ‚Fowlers End‘ (1957), ‚The Implacable Hunter‘ (1961), ‚A Long Cool Day in Hell‘ (1965),‘ The Angel and the Cuckoo‘ (1966), ‚Brock‘ (1969).